Stimmen von der Basis
So urteilt der Westerwald über den Koalitionsvertrag
Aus allen Blickwinkeln wird der Koalitionsvertrag, den (von rechts) die Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil (beide SPD), Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) präsentiert haben, beleuchtet. Reaktionen gibt es auch aus dem Westerwaldkreis.
Michael Kappeler. picture alliance/dpa

Deutschland steht vor einer schwarz-roten Regierungsbildung. Der Koalitionsvertrag liegt auf dem Tisch, viele Parteien, Verbände und Organisationen haben ihre Meinung geäußert. Aber wie wird die „Regierungsgrundlage“ im Westerwaldkreis gesehen?

Die Tinte unter dem Koalitionsvertrag von Union und SPD ist getrocknet. Doch ist das, worauf sich CDU, CSU und Genossen verständigt haben, nun der „große Wurf“ oder eher ein „Rohrkrepierer“? Auch im Westerwaldkreis gehen die Meinungen da weit auseinander – abhängig davon, aus welcher parteipolitischen Brille man das Werk betrachtet. Wir haben uns auf kommunaler Ebene im Kreis umgehört.

„Der Koalitionsvertrag ist ein solider Vertrag, ein Befreiungsschlag in dem Sinne, dass er klare Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit gibt“, sagt die CDU-Kreisvorsitzende Jenny Groß auf Anfrage unserer Zeitung. Konkret nennt sie hier wirtschaftliche Unsicherheiten, innere Sicherheit, Migration und die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Man setze auf Verlässlichkeit, Stabilität und Fortschritt – Werte, die Deutschland in der aktuellen Lage dringend brauche. „Der Vertrag steht für einen Aufbruch, ohne dabei das Fundament zu vergessen, das unser Land stark gemacht hat“, sagt die Landtagsabgeordnete. „Natürlich wissen wir alle: Papier ist geduldig. Deshalb kommt es jetzt ganz entscheidend auf die Umsetzung an. Es bleibt dabei: Wir müssen liefern. Nicht mehr und nicht weniger“, so ihr Fazit.

„Papier ist geduldig. Deshalb kommt es jetzt ganz entscheidend auf die Umsetzung an. Es bleibt dabei: Wir müssen liefern.“
Jenny Groß, Kreisvorsitzende der CDU

Mit Optimismus blickt Groß auf die Umsetzung dessen, was die künftigen Koalitionäre vereinbart haben. „Der Politikwechsel kommt, darauf haben sich CDU/CSU und SPD geeinigt. Und das, worauf man sich hier geeinigt hat, trägt zweifellos deutlich die Handschrift der CDU“, ist sie überzeugt. Als Beispiele nennt die Christdemokratin die Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit durch Entlastungen für den Mittelstand, Bürokratieabbau und gezielte Investitionen in Schlüsselindustrien sowie eine klare Sicherheitsagenda mit mehr Befugnissen für Polizei und Verfassungsschutz sowie eine konsequente Migrationspolitik. Auch die Förderung von Eigenverantwortung und Leistung, etwa im Steuerrecht und bei der Rente sowie ein pragmatischer Klimakurs, der Technologieoffenheit statt Verbote in den Vordergrund stelle, zählt für sie dazu.

Groß macht aber auch keinen Hehl daraus, dass eine Koalition immer Kompromisse erfordert. Dennoch habe man den Politikwechsel im Blick. „Es geht jetzt gewiss nicht um ,Kröten’, sondern um unser Land, und dies verdient eine funktionierende und stabile Regierung. Wir konnten sicherstellen, dass unsere Grundüberzeugungen gewahrt bleiben. Zudem sind 14 von 15 Punkten des CDU/CSU Sofortprogramms übernommen“, führt sie aus. Vorrangig steht für Groß die wirtschaftliche Stabilisierung zusammen mit den entscheidenden Punkten der Migrationspolitik und der Entlastung der Familien und Unternehmen. „Es gibt klare Regeln für eine Migrationswende, Rückführungen werden beschleunigt und die Sicherheit gestärkt. Es wird auch wieder mehr auf Eigenverantwortung und Leistung gesetzt“, fasst sie zusammen. 25 Prozent weniger Bürokratiekosten bis zum Ende des Jahres nennt Groß „eine Ansage“. „Bonpflicht weg, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz weg, Stromsteuer runter auf EU-Mindestmaß, Netzentgelte und Umlagen ebenfalls runter – das sind allesamt wichtige Punkte.“

„Diese Koalition muss die drängenden Probleme bei der staatlichen Infrastruktur lösen und die Wirtschaft in die Lage versetzen, wieder zu wachsen.“
Hendrik Hering, SPD-Kreisvorsitzender

Der SPD-Kreisvorsitzenden Hendrik Hering hält es in der kommenden Wahlperiode für wichtig, in einem gemeinsamen Kraftakt Deutschland so aufzustellen, dass es verteidigungs- und abwehrbereit wird und Zivil- und Katastrophenschutz einsatzbereit sein. „Diese Koalition muss die drängenden Probleme bei der staatlichen Infrastruktur lösen und die Wirtschaft in die Lage versetzen, wieder zu wachsen. Befreit sind wir von der Blockadehaltung der Union, die in der Opposition der Regierung die finanziellen Spielräume nicht zugelassen hat, die ein früheres Handeln ermöglicht hätte“, so Hering. „Wir wollen nicht vergessen, dass die Schwierigkeiten schon die aktuelle Regierung angehen wollte, ihr aber aus machttaktischem Kalkül die Mehrheiten hierfür verwehrt blieben“, so der Mainzer Landtagspräsident. Für einen echten Befreiungsschlag fehlen ihm „viele Verbesserungen im Sozial-, Gesundheits- und Arbeitnehmerbereich“.

Für Hering trägt der Koalitionsvertrag durchaus eine klar erkennbare sozialdemokratische Handschrift. Das Sondervermögen und die Regelungen rund um den Verteidigungshaushalt verbindet er mit dem „ur-sozialdemokratischen Anliegen, einen handlungsfähigen starken Staat zu schaffen. Auch achte man darauf, dass Arbeit wertgeschätzt werde, und ziehe deshalb die Lohnuntergrenze, den Mindestlohn, bei 15 Euro, um auch einen vernünftigen Abstand zu den Beziehern von Sozialleistungen zu schaffen.

Dabei räumt er ein, dass die SPD mit 16 Prozent der Stimmen nicht die „Wirkmacht“ von den Wählern erhalten habe, um sich mit allen zentralen Forderungen durchzusetzen. „Wir müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass heute schon die Steuerentlastungen von Normal- und Geringverdiener unter Vorbehalt stehen. Eine generell gerechtere Steuerpolitik wird in dieser Koalition nicht stattfinden können. Höhere Steuern für Reiche, Steuern auf extrem hohes Vermögen und Erbe, mit denen die hart arbeitende Bevölkerung entlastet werden könnte, ist nicht im Interesse von CDU und CSU“, so das Fazit des Genossen. Auch eine Bürgerversicherung, bei der Arbeitnehmer, Beamte, freiberuflich Tätige und auch wir Politiker in eine Gesundheits- und Pflegekasse einzahlen, sei mit den Konservativen nicht zu machen gewesen.

Eine der vorrangigsten Aufgaben der neuen Regierung sieht Hering darin, die Ausrüstung der Bundeswehr, des Katastrophenschutzes und der Zivilverteidigung sowie den Ausbau Infrastruktur zügig aufs Gleis zu bekommen. Gleichzeitig sei eine rechtskonforme Regelung der Zuwanderung in Absprache mit den Nachbarn und die schnelle und zielführende Integration der hier lebenden ausländischen Mitmenschen zu organisieren.

„Es hätte jetzt mutige Weichenstellungen gebraucht – stattdessen erleben wir Stillstand im Klein-Klein.“
Emily Holighaus und André Butscheike, Kreissprecher von Bündnis 90/Die Grünen

Deutlich kritischer sehen das die Kreissprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Emily Holighaus und André Butscheike. In einer gemeinsamen Antwort sehen sie in dem Koalitionsvertrag einen „Rückschritt in zentralen Zukunftsfragen“. „Angesichts der eskalierenden Klimakrise, des Artensterbens, wachsender sozialer Ungleichheit und globaler Spannungen hätte es jetzt mutige Weichenstellungen gebraucht – stattdessen erleben wir Stillstand im Klein-Klein. Die notwendige ökologische Modernisierung wird verschleppt, soziale Reformen bleiben aus, und zukunftsgerichtete Investitionen werden vertagt“, so das Duo. Besonders besorgniserregend sei es, dass viele der drängendsten Probleme auf die kommenden Generationen abgewälzt würden, statt sie entschlossen anzugehen. Dennoch wollen die Grünen laut Holighaus und Butscheike keine generelle Verweigerungshaltung einnehmen. Es gibt einzelne Punkte im Koalitionsvertrag, die anschlussfähig sind und bei entsprechender Ausgestaltung mitgetragen werden könnten. Ansätze für eine Zusammenarbeit sehen sie beim Deutschlandticket und der ÖPNV-Finanzierung,, bei Investitionen in Digitalisierung und Bildung sowie bei der zivilen Krisenvorsorge und dem Katastrophenschutz. Auch beim geplanten Industriestrompreis und beim Entschuldungsfonds für Kommunen sehen die beiden Schnittmengen.

In den Bereich „No-Go“ fallen für das Sprecherduo die geplante „Rückführungsoffensive“ sowie die damit verbundene „Abschiebe-Rhetorik“. Auch eine stagnierende Klimaschutzpolitik insgesamt und unklare Klimaziele im Verkehrssektor prangern die Bündnisgrünen an. Außerdem wenden sie sich gegen die Rückabwicklung des Gebäudeenergiegesetzes und beklagen einen fehlenden Reformmut von Schwarz-Rot in der Rentenpolitik. Befragt nach den vorrangigen Themen, die die neue Bundesregierung jetzt anpacken muss, nennen Holighaus und Butscheike gleich fünf Punkte: einen verbindlichen Klimaschutz mit der Rückkehr Deutschlands auf den 1,5-Grad-Pfad, den Einsatz für sozialen Zusammenhalt und nachhaltige Sozialsysteme, die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat, eine moderne und humane Migrationspolitik sowie eine Stärkung der Europäischen Union.

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