Das Schicksal von Albert Wengenroth, der als SPD-Politiker in die Fänge der Nazis geriet und vor 80 Jahren im KZ Dachau ums Leben kam, beschäftigt 16 Schüler der Berufsbildenden Schule (BBS) Westerburg. Seit Anfang des Jahres ist die BVJ-Klasse 24F mit ihrem Lehrer Björn Bergmann, begleitet von Schulsozialarbeiterin Corinna Buchner und Praktikantin Hanna Schallock, auf Spurensuche. Das Projekt findet im Rahmen eines projektbezogenen Faches statt, das sich „Leben und Beruf“ nennt.
Die 15- bis 17-Jährigen werden für Erinnerungsarbeit sensibilisiert. Sie haben sich auch mit der ehemaligen Stadtarchivarin Maria Meurer getroffen, die ihnen von ihrer Forschungsarbeit über das Leben der Juden in Westerburg und deren Schicksal berichtete und dazu auch ihr Buch „Verfolgt – Vertrieben – Vernichtet“ mitbrachte. Die Jugendlichen folgten der Podcast-Stadtführung auf den Spuren jüdischen Lebens in Westerburg und gingen zur Albert-Wengenroth-Straße. Aktuell sind sie dabei, ein in Episoden gezeichnetes Video zum Leben von Albert Wengenroth zu erstellen, um diesen Beitrag dann Ende März beim Schüler- und Jugendwettbewerb „mitgedacht – mitgemacht“ der Landeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem rheinland-pfälzischen Landtag einzureichen.

„Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftlichen Stimmung und dem Umgang mit politisch Andersdenkenden war es mir wichtig, den Blick auf Albert Wengenroth zu richten“, erklärt Lehrer Bergmann wie alles begann. „Er zeigte uns ein Foto. Ich wusste überhaupt nichts über Albert Wengenroth“, erzählt Lina-Marie Engelin. So ging es auch ihren Klassenkameraden, die nun die Aufgabe hatten, sich dem Leben des Westerburgers zu nähern. Die Klasse setzte sich in den ersten Wochen des Kalenderjahres mit der Biografie Wengenroths auseinander und versuchte, diese anhand von Auszügen aus dem „Gedächtnisbuch Dachau“ und dem Buch von Maria Meurer nachzuvollziehen. Die Ergebnisse wurden auf Plakaten festgehalten, die Überschriften haben wie „Tragisches Schicksal im KZ Dachau“, „Ein Leben voller Engagement“ oder „Die Geheimnisse der Vergangenheit“.
Albert Wengenroth, geboren am 16. Mai 1898 in Westerburg, war ein über die Stadt hinaus bekannter außerordentlich engagierter SPD- und Gewerkschaftsfunktionär sowie Politiker. Zum Wohl der Bürger der Stadt und des damaligen Kreises Westerburg engagierte er sich ehrenamtlich als Stadtrats-, Magistrats- und Kreistagsmitglied. Allein wegen seines politischen Engagements als SPD-Politiker im Zeitraum 1924 bis 1932 wurde er zum Opfer der Verfolgung durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Albert Wengenroth, der als politischer Schutzhäftling inhaftiert war, starb am 12. Februar 1945 im Konzentrationslager Dachau.

„Es fühlt sich an, als bekomme man ein schlimmes Märchen erzählt, so unfassbar“, sagt Lina-Marie Engelin leise. Ihr Klassenkamerad Felix Reithmeier fügt an: „Wir waren schockiert. Hier vor der Haustür“, versucht er seine Gefühle auszudrücken angesichts der historischen Ereignisse. Beide sagen, dass sie sich schon mit dem Thema Drittes Reich und seinen Folgen auseinandergesetzt hätten. Dass sie von Konzentrationslagern schon vor dem Projekt wussten und dass sie politisch interessiert seien.
„Ich denke, was hier geschah, wissen nur so 15 Prozent der Einwohner von Westerburg, die schon immer hier lebten“, meint Lukas Freund. Gerade ist er gemeinsam mit Leon-Joel Uhr dabei, zwei Briefe zu lesen, die Albert Wengenroth im September und Oktober 1944 an seine Minna geschrieben hat. Das sei schon ungewohnt, solche alte Briefe zu studieren, sagen sie. Um sie überhaupt entziffern zu können, sind sie aus der Sütterlinschrift „übersetzt“. „Er schreibt darin, wie es ihm geht und erkundigt sich nach der Familie“, gibt Leon-Joel den Inhalt wieder.

Diese jungen Menschen seien die erste Klasse, die sich mit dem Schicksal von Albert Wengenroth so ausführlich beschäftigte, dass sie sich gefragt habe: „Was soll ich noch erzählen?“, lobt Maria Meurer das Engagement der BVJ-ler. So eine Teamarbeit habe sie noch nicht erlebt, ja sie sei „glücklich, dass die Schüler so mitgedacht haben“, bekennt sie. „Die Schüler wollen sich auch für eine Hinweistafel am Geburtshaus von Wengenroth - in der Wörthstraße 13 – einsetzen“, berichtet sie weiter.
Ja, ihnen ist es wichtig, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, Erinnerungsarbeit zu leisten. „Man sollte mehr Leute für dieses Thema interessieren, gerade angesichts der aktuellen Lage“, meint Felix Reithmeier. Das ist auch dem Lehrer wichtig: „Inhaltlich motiviert hat uns dabei die Frage, wie man auch noch 80 Jahre nach dem Holocaust auf dessen Bedeutsamkeit für uns heute aufmerksam machen kann. Neben dem nach dem Überfall der Hamas auf Israel merklich angestiegenen gesellschaftlichen Antisemitismus war für uns ein anderer Punkt als Anknüpfung an das Heute und das kategorische ’Nie wieder’ relevant: Der gesellschaftliche Umgang mit politisch Andersdenkenden, der auch heute sowohl analog als auch digital Züge annimmt, die kaum gewünscht sind.“

Sie mache sich oft Gedanken, wie das damals war, sagt Lina-Marie. Und dass sie Angst habe, dass „nochmals so schlimme Sachen passieren können. Das ist beängstigend.“ In ihrem Wettbewerbsbeitrag wollen die Schüler in einem Video erzählen, warum Albert Wengenroth verfolgt wurde, wie es dazu gekommen ist und wie es geendet hat. Die Arbeit laufe super und mache Spaß, sind sie sich einig. Und auch die Sozialarbeiterin ist voll des Lobes: „Ich bin begeistert. Die Schüler haben sich super mit dem Thema beschäftigt und machen sich auch Gedanken über eine mögliche Übertragbarkeit in die heutige Zeit“.
„Das ist ein Anliegen der Schule, sich nicht hinter hohen Opferzahlen zu verstecken, sondern ihnen wieder einen Namen zu geben“, kommt Bergmann nochmals auf den Kern des Projektes zu sprechen. Ende März muss das Video eingereicht sein. Doch auch dann endet die Beschäftigung der Schüler mit dem Thema noch nicht. Geplant ist, dass sie das ehemalige Konzentrationslager Osthofen besuchen werden.
Literatur zur Lokalgeschichte
Maria Meurer hat sich über Jahre hinweg mit dem Schicksal des einstigen Westerburger SPD-Politikers Albert Wengenroth beschäftigt. Ihr erstes Buch erschien 2014 und trägt den Titel „Tod in Dachau – das Leben des Albert Wengenroth“. Bereits in den Jahren vor 2009 hatte die frühere Stadtarchivarin anlässlich einer internationalen Wanderausstellung, bei der zusätzlich durch eine kleine Ausstellung und einen Vortrag an das Schicksal des Westerburger SPD-Politikers erinnert wurde, in mühevollen Recherchen Fakten aus dem Leben Wengenroths zusammengetragen. Zudem veröffentlichte sie 2019 das Buch „Verfolgt – Vertrieben – Vernichtet – Die Lebensgeschichten von 140 jüdischen Opfern des Naziregimes“. Ergänzend dazu gibt es in Westerburg die digitale Stadtführung „Jüdisches Leben“. bau