Seit rund 30 Jahren befasst sich die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit den Themen Kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen. Als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin unterfütterte sie ihren Vortrag mit zahlreichen Zitaten bekannter Schriftsteller und Philosophen.
Grundsätzlich unterscheidet Assmann zwischen persönlichen Erinnerungen, die durch Trigger wie Geruchs- oder Geschmackserlebnisse hervorgerufen und so auch willentlich geweckt werden können, und der kollektiven Erinnerung an Ereignisse oder Zeitabschnitte, die eine Gesellschaft als Ganzes betrifft. Als Beispiel für das private Erinnern nannte sie Marcel Proust, der in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ das inzwischen als „Madeleine-Effekt“ bekannte Auslösen einer schönen Kindheitserinnerung durch den Geschmack eines in Tee getunkten Stücks Sandgebäck schilderte. Exemplarisch für nationale Erinnerungen – und die daraus erwachsenden Narrative – zog Assmann Wendezeit und Mauerfall heran.
Erinnern und Vergessen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen.
Narrative, die Darstellung vergangener Geschehnisse, entwickeln sich erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand, sie müssen sich „konsolidieren“, erläuterte Assmann. Die Wissenschaftlerin warnte: „Erinnern und Vergessen lassen sich nicht gegeneinander ausspielen.“ Eine kollektive Erinnerung, und damit eine gemeinsame Vergangenheit, ließe sich umso einfacher zu einem Konsens bringen, je weniger unmittelbar Betroffene ihre individuelle Wahrnehmung einbringen und je stärker der gesellschaftliche und politische Kontext sie bestimmt. „Ein Narrativ entsteht nicht durch Verordnung, sondern durch das Ausbleichen individueller Erinnerungen“, beschrieb Assmann.
Als Hakenkreuze, Hitlerbilder und “Mein Kampf" plötzlich verschwanden
Erinnerungen an unangenehme Ereignisse können sowohl Personen als auch Gesellschaften quälen, das zeigte die Referentin an einer Passage aus einer Ansprache von Günter Grass: „(…) Fallstricke bringen uns ins Stolpern. (…) Sprachlose Gegenstände stoßen uns an, Dinge, die uns seit Jahren, so meinten wir, teilnahmslos umgaben, plaudern Geheimnisse aus: peinlich, peinlich!“ Diese „Peinlichkeit“ hätten die Deutschen etwa nach dem Zweiten Weltkrieg vermeiden wollen, indem sie Hakenkreuze, Hitlerbilder und das Buch „Mein Kampf“ verschwinden ließen – und nach dem Mauerfall wurden aus DDR-Geschichtsbüchern Kapitel herausgerissen, vieles ganz entsorgt.
Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.
Ein Mechanismus, der laut Assmann noch heute eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte und damit letztlich auch eine erfolgreiche Integration erschwert. Sie zitierte Friedrich Nietzsche: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“
Sozialer Rahmen wirkt wie ein Bilderrahmen
Anhand eines Bildes machte Assmann die Funktion des kollektiven Gedächtnisses deutlich: Der soziale Rahmen wirke wie ein Bilderrahmen – dieser entscheide mit über die Erinnerung, nämlich was innerhalb des Rahmens ist, und das Vergessen dessen, was außerhalb bleibt. Scham bestimme auch im kollektiven Gedächtnis darüber, welche Erinnerungen eine Gesellschaft – etwa durch Gedenktage – immer wieder aufleben lässt und welche verdrängt werden.
Letztlich kommt Aleida Assmann zu dem Ergebnis, dass die Vergangenheit nicht reparabel ist. Zumindest mit individuellen Erinnerungen kann man sich aber vielleicht aussöhnen.