„Ich habe, ohne es zu wissen, meinem Kind beim Sterben zugesehen“, sagt Nathalie Berges-Heilmann. Im März 2023 hat die zweifache Mutter ihren Sohn Rafael mit diffusen Symptomen in den Kemperhof in Koblenz gebracht. Dort stirbt der Neunjährige am Tag darauf an einer zu spät diagnostizierten Sepsis. Wie kann es sein, dass ein vermeintlich gesunder Junge, dessen Alltag sich bis zu jenen fatalen Tagen im Frühjahr vergangenen Jahres um Familie, Fußball, Freunde und Schule dreht, plötzlich stirbt?
Es ist die Geschichte einer Verkettung unglücklicher Umstände – jedoch hat es den Anschein, als sei Rafael auch einer Infektion zum Opfer gefallen, weil selbst versiertes medizinisches Personal nicht frühzeitig genug eine tödliche Gefahr erkannt hat, weil Strukturen nicht richtig funktionierten. Damit andere nicht das erleben müssen, was ihnen passiert ist, machen Rafaels Eltern und die Großeltern die tragischen Vorgänge öffentlich. Um Schuldzuweisungen geht es der Familie nicht.
Am Mittwoch, 29. März 2023, kommt Rafael mit 41 Grad Fieber gegen 19.30 Uhr mit dem Rettungswagen von Selters im Westerwald in den Kemperhof in Koblenz. Dort humpelt der Junge mit schmerzendem Fuß, mit kribbelnden Armen und Beinen in die Notaufnahme. Die Schmerzen, das Fieber, das sich nicht dauerhaft senken lässt – das können Anzeichen einer Sepsis sein, aber auch vieler anderer Krankheiten.
Bei Sepsis muss es keine offene Wunde geben
Viele Fehlinformationen ranken sich um Sepsis, die allgemein oft als Blutvergiftung bezeichnet wird. Dass es eine offene Wunde geben muss, zum Beispiel. Dass sie an einem blauen Strich erkannt werden kann, der sich von einer Wunde bis zum Herzen zieht. Das ist nicht richtig. Sepsis ist die schwerste Verlaufsform einer Infektion. Sie entsteht, wenn die körpereigenen Abwehrreaktionen gegen in die Blutbahn eindringende Infektionserreger aus dem Ruder laufen und beginnen, das eigene Gewebe und die eigenen Organe zu schädigen.
Sepsis ist ein Notfall, wo innerhalb der ersten Stunde etwas gegeben werden soll.
Konrad Reinhart, Senior Professor an der Charité Universitätsmedizin in Berlin
Um Sepsis zu behandeln und einzudämmen, müsse man Symptome früh erkennen und krankenhausweit die Möglichkeit haben, fachübergreifend zu beraten und zu handeln; es müsse eigentlich ein Notfallteam geben, erklärt Konrad Reinhart, Vorsitzender der Organisation Sepsis Stiftung in Berlin, weiter. Jede Stunde zähle; Ärzte und Pflegekräfte müssten systematisch geschult werden, um Sepsis zu erkennen. In Rafaels Fall dauert es Stunden bis zur ersten Untersuchung.
In der Klinik ist seine Mutter unruhig, fragt immer wieder nach einem Arzt. Darauf habe sie die Antwort bekommen, nur weil sie mit dem Krankenwagen gekommen seien, brauchten sie nicht zu denken, dass sie schneller drankämen, erinnert sich Nathalie Berges-Heilmann an die Aussage des Pflegepersonals. Und dass sie den Fiebersaft wohl zu niedrig dosiert habe. „Wenn ich gesagt habe, Rafael geht es so schlecht, haben sie mir einen Kühlakku gebracht. Und immer, wenn ich nachgefragt habe, war ein anderer Notfall da.“
Ein Großteil der Todesfälle ist vermeidbar
Alle sechs Minuten stirbt ein Mensch in Deutschland an Sepsis, heißt es auf der Internetseite der Kampagne „Deutschland erkennt Sepsis“. Ein großer Teil der Erkrankungen und Todesfälle ist demnach vermeidbar. Bei Kindern ist Sepsis die zweithäufigste Todesursache in Deutschland, wissen Rafaels Angehörige heute.
Um 23.10 Uhr wird der Junge von einer Ärztin untersucht, es wird Blut abgenommen, der Urin ist dunkelbraun. Nathalie Berges-Heilmann fragt, ob die Scharlacherkrankung, die Rafael fünf Wochen vorher hatte, mit dem aktuellen Zustand zu tun haben kann. Eine Antwort bekommt sie nicht.
Die Symptome einer Sepsis sind vielfältig, besonders bei Kindern: Der sportliche Junge, der noch kurze Zeit vorher den ganzen Tag im Fußballcamp verbringen und danach zum Training gehen konnte, ist noch Wochen nach einer Scharlacherkrankung ständig müde. „Er hat gesagt, er würde sich so gerne mal wieder gesund fühlen“, erinnert sich Rafaels Oma Gabriele Berges. Ein Frühwarnzeichen von Sepsis ist ein nie gekanntes schweres Krankheitsgefühl.
Später in der Nacht zum Donnerstag wird Rafael noch einmal geholt, eine Ultraschalluntersuchung zeigt keine Auffälligkeiten. „Ich habe die Ärztin auf Rafaels Schmerzen im Fuß aufmerksam gemacht“, schildert Nathalie Berges-Heilmann. Zudem habe sie der Medizinerin kleine rote Punkte über dem Knöchel gezeigt, die dann mit dem Oberarzt telefoniert und gefragt habe, ob sie ein Antibiotikum geben solle. Doch der Arzt habe gesagt, sie solle erst die Blutwerte abwarten, berichtet die Selterserin weiter. Es bestehe die Gefahr, dass ein Breitbandantibiotikum Dinge vertusche; auch von der Gefahr einer Antibiotikaresistenz sei die Rede gewesen, erinnert sich die Mutter an die Begründungen der Mediziner.
Gefahr der Antibiotikaresistenz einseitig hervorgehoben
Damit ist gemeint, dass ein Antibiotikum keine Wirkung mehr auf die entsprechenden Erreger hat. Doch Konrad Reinhart, selbst Anästhesist und Intensivmediziner, bis 2016 Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Jena und heute unter anderem Senior Professor an der Charité Universitätsmedizin in Berlin, sagt: „Sepsis ist ein Notfall, wo innerhalb der ersten Stunde etwas gegeben werden soll.“ Mindestens 100-mal mehr Menschen stürben aus Angst davor, Antibiotikaresistenzen zu erzeugen, da werde einseitig eine Gefahr hervorgehoben, erklärt Reinhart.
Auch Thomas Nüßlein, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein, weiß: „In dem Moment, in dem sich die zuvor unspezifischen Beschwerden zum Krankheitsbild Sepsis formieren, ist die Gabe eines Antibiotikums eine der essenziellen medizinischen Maßnahmen.“ Lasse man den Begriff Breitbandantibiotikum unbeachtet, sei genau das Konzept einer umgehenden antibiotischen Therapie nach den ersten Alarmzeichen für die Diagnose Sepsis zur Anwendung gekommen, betont der Mediziner.
Das verstehe sie nicht, sagt Nathalie Berges-Heilmann später dazu. Rafael könne ihres Wissens nach höchstens kurz vor seinem Tod, auf der Intensivstation, ein Antibiotikum bekommen haben.
Symptome einer Sepsis: Blaue Lippen gehören dazu
Mutter und Kind versuchen zu schlafen, doch der Junge hat Schmerzen; es geht ihm schlecht. Am nächsten Tag ist er desorientiert. Aber auf die Fragen nach Wochentagen antwortet der Neunjährige korrekt. Mit dem Oberarzt habe sich ihr Sohn über Fußball unterhalten, der den Schluss zog, dass der Junge klar sei. Rafael, ein Kämpfer, ein starkes Kind, habe versucht seine Sache gut zu machen, weiß Nathalie Berges-Heilmann: „Leider, muss ich heute sagen.“ Der Arzt habe angekündigt, später noch einmal nach Rafael zu schauen.
Der Zustand des Kindes verschlechtert sich weiter rapide, die Schwestern bringen Kühlakkus. Als Nathalie Berges-Heilmann nach dem Oberarzt fragt, erhält sie die Antwort: „Heute kommt keiner mehr.“ Währenddessen bekommt der Neunjährige blaue Lippen und auf seiner Wange zeichnen sich blaue Flecken ab. Rafael muss sich einmal mehr übergeben. „Das war so wie Schleim, wie Eiter“, erinnert sich die Mutter.
Inzwischen ist es Vormittag. „Mittlerweile war Rafael so schwach, dass er sich nicht richtig halten konnte“, berichtet Nathalie Berges-Heilmann. Ein weiterer Ultraschall vom Bauchraum habe ganz viele kleine Fädchen gezeigt. „Der wird noch viel Durchfall kriegen, hat der Arzt gesagt“, so die Mutter. Bis zu dem Zeitpunkt habe Rafael noch nichts bekommen außer Elektrolyte oder fiebersenkende Mittel. Beim Blick auf die Lunge und das Herz seien die Ärzte alarmiert gewesen. „Wir tun ihn lieber mal auf Intensiv“ zitiert die 37-Jährige die Mediziner.
Wie aus einem Film beschreibt die Mutter das, was folgt. „Zehn Leute haben da an ihm gezogen“, sagt Nathalie Berges-Heilmann, die trotz der schlimmen Situation in diesem Augenblick erleichtert ist, dass endlich jemand etwas tut. Literweise sei Flüssigkeit in den kleinen Körper gepumpt worden. Die Mutter muss, so beschreibt sie es später, gegen ihren Willen das Zimmer verlassen. Die Rufe Rafaels klingen ihr in den Ohren: „Mama, ich habe Angst, ich kriege keine Luft.“ Das werden die letzten Worte sein, die sie von ihrem Sohn hört.
Nicht systematisch erfasst
Mindestens 230.000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland an Sepsis, mindestens 85.000 davon versterben. Damit gehört die Infektion zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland. Doch Todes- und Krankheitsursachen würden in Deutschlands Krankenhäusern nicht systematisch erfasst und dokumentiert, weiß Konrad Reinhart: „Von daher kann es durchaus sein, dass die Zahlen deutlich höher sind.“ Das gelte insbesondere für unterschätzte Krankheiten wie Sepsis. Eine Studie über sechs Jahre habe in Deutschland eine Krankenhaussterblichkeitsrate von 16,6 Prozent bei Kindern mit Sepsis festgestellt, so Reinhart.
Viele Fragen quälen die Familie in den folgenden Monaten
Ihr Mann ist mit im Krankenhaus; er habe ein schlechtes Gefühl gehabt und deshalb ein wichtiges Meeting abgebrochen, sagt seine Frau. Zusammen mit der Oma geht der Vater zur Intensivstation. Dort wird Rafael mehr als eineinhalb Stunden lang reanimiert. Gabriele Berges erinnert sich, ein Arzt habe zu ihr gesagt: „Sie sehen, wir tun alles für Ihren Enkel“. Sie habe geantwortet: „Ja, aber viel zu spät.“ Sie hätten alle noch einmal zu Rafael gedurft, aber nur, um sich zu verabschieden. Der Neunjährige stirbt.
Zu Hause müssen die Eltern, völlig alleingelassen, dem kleinen Bruder die schlimme Nachricht überbringen, müssen weitermachen. In den schweren Monaten danach quälen die Familie unbeantwortete Fragen: Was verursachte die Sepsis, woher kamen die aggressiven Erreger? War die Scharlacherkrankung der Auslöser? Hatten die Schwestern die stetige Verschlechterung von Rafaels Zustand überhaupt an den Arzt weitergegeben? Die wichtigste, was dazu geführt hat, dass die Sepsis bei Rafael so spät erkannt wurde, stellt unsere Zeitung dem Krankenhaus.
Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte Rafael vielleicht nicht sterben müssen.
Nathalie Berges-Heilmann will auf die tödliche Gefahr aufmerksam machen, die von einer Sepsis ausgeht.
Auf die verständliche Frage der Eltern könne man keine allgemeingültige Antwort geben, antwortet der Chefarzt darauf. Es sei ein Dilemma, denn es gebe Situationen, in denen die klinischen Symptome und Befunde zwar eine Blutbahninfektion nicht ausschließen könnten und trotzdem nichts für einen drohenden septischen Schock spreche. „Ein Maß für die Gefährdung ist die ‚Time to positivity’, also die Zeit, die ein Sepsis auslösendes Bakterium braucht, um in der Labordiagnostik zu einem positiven Ergebnis zu führen. Ist diese Zeitspanne in der Labordiagnostik besonders kurz, muss man davon ausgehen, dass sich das Bakterium genauso schnell im menschlichen Körper verbreitet“, erklärt der Arzt.
Dann sei das üblicherweise ohnehin schon kleine Zeitfenster, das nach den allerersten Zeichen der Sepsis für die Behandlung zur Verfügung stehe, noch kürzer als bei anderen vom septischen Schock Betroffenen. „Dieses Wissen um sich besonders schnell vermehrende Bakterien erklärt im Nachhinein besonders dramatische Verläufe“, bezieht sich der Chefarzt indirekt auf Rafael. Die Information könne aber erst zur Verfügung stehen, wenn die medizinischen Entscheidungen schon längst getroffen sein müssten.
Sepsis: Symptome und Risikofaktoren
Weitreichendes Infomaterial zum Thema Sepsis finden Sie unter anderem bei der Sepsis-Stiftung und der Kampagne Deutschland erkennt Sepsis.
Chefarzt: Situation hat sich innerhalb von Minuten zugespitzt
Darüber hinaus sei festzuhalten, dass die Behandlung eines Kindes mit Sepsis auch alle Beteiligten in der Klinik nicht zur Ruhe kommen lasse, so Thomas Nüßlein. „Natürlich steht es uns nicht zu, unsere Trauer mit der der Eltern auf eine Stufe zu stellen. Jedoch kommt es auch in einer Klinik dieser Größe mit vielen Tausend Patientinnen und Patienten pro Jahr so gut wie nie vor, dass sich eine anfänglich harmlose medizinische Vorgeschichte in der Klinik in Stunden, um nicht zu sagen in Minuten, so dramatisch zuspitzt“, erklärt der Chefarzt.
Auf die Frage nach den Zahlen von Fällen von Sepsis bei Kindern im Kemperhof, wie viele es jährlich sind und wie viele davon tödlich enden, antwortet Nüßlein: „Die Kinder und Jugendlichen, die in den letzten Jahren an einer Sepsis im Kemperhof verstorben sind, sind sehr präsent und namentlich bekannt. Denn es sind Einzelfälle und für die beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausnahmslos extrem belastend.“ Analysen im engeren Sinne dazu gebe es nicht, weil auch die Übergänge fließend seien, fügt er hinzu.
Seit 2021 gibt es die deutschlandweite Sepsis-Initiative, ein Programm zur Früherkennung und Behandlung. Das Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein sei von Anfang an dabei und habe die Thematik intern und extern aufgegriffen, sagt Thomas Nüßlein. Als Klinik für Kinder- und Jugendmedizin bemühten sie sich mit vielen Maßnahmen um frühestmögliche Diagnostik und Therapie dieser bedrohlichen Erkrankung; zudem bildeten sich Pflegepersonal und Mediziner kontinuierlich weiter.
„Im Team haben wir Oberärztinnen und -ärzte mit den Zusatzbezeichnungen Infektiologie und Intensivmedizin. Beide Qualifikationen führen zu besonderer Wachsamkeit für diese Diagnose, erklärt Nüßlein. Der behandelnde Oberarzt habe genau diese Bezeichnungen getragen: „Trotzdem hat er die Sepsis bei Rafael nicht erkannt“, sagt die Mutter.
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Über Rafaels Geschichte, die Erlebnisse der Familie und die Aussagen von Experten sowie des Kemperhofs sprechen wir auch in unserem Podcast RZInside. Sie können die Folge auf allen gängigen Podcastplattformen oder direkt auf dieser Seite hören:
Sie wollen nicht anklagen, das machen Nathalie Berges-Heilmann und ihre Mutter Gabriele Berges abschließend noch einmal deutlich. „Das bringt uns Rafael nicht zurück. Vielmehr möchten wir aufklären und warnen genauer hinzuschauen“, sagen sie. „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte Rafael vielleicht nicht sterben müssen“, bemerkt die 37-Jährige gefasst. Doch sie sei keine Ärztin, setzt sie hinterher.