Holocaust Zwei Jüdinnen besuchen Hartenfels und Selters - Verwandte erlebten Fürchterliches
Nach Spuren der Vorfahren gesucht: Zwei Jüdinnen besuchen Hartenfels und Selters
Rabbi Rachel Goldenberg und Erika Strake, zwei Jüdinnen aus den USA, haben in diesem Jahr die Stätten ihrer Vorfahren im Westerwald besucht.

Westerwald/New York/Boston. Zwei junge Frauen aus den USA landen auf dem Flughafen in Frankfurt/Main und besuchen den Westerwald. Sie sind auf der Suche nach Heimat, nach der Heimat ihrer Vorfahren namens Weinberg, die im Westerwald lebten. Beide sind Anfang 40 und Großcousinen, beide sind verheiratet und haben Kinder. Rachel Goldenberg wohnt in New York, Erika Strake in Boston. Als Jüdinnen fühlen sie sich in den Großstädten sicherer als auf dem Lande; in der großen Stadt leben sie anonymer, sind einige unter vielen in ihrer jüdischen Gemeinde.

Rabbi Rachel Goldenberg und Erika Strake, zwei Jüdinnen aus den USA, haben in diesem Jahr die Stätten ihrer Vorfahren im Westerwald besucht.

Rachel Goldenberg ist Rabbinerin, mithin Vertreterin eines liberalen Judentums, denn bei den Orthodoxen muss der Rabbi nach wie vor männlich sein. Erika Strake ist genau so lebenslustig wie ihre Großcousine Rachel und kümmert sich in Boston um den Haushalt und die Kinder ihrer Familie. Beide sind das erste Mal in Europa, das erste Mal in Deutschland, das erste Mal im Westerwald.

Von Frankfurt aus sind sie mit einem Leihwagen unterwegs und machen zunächst Station in Gelnhausen/Hessen, dem Geburtsort von Erikas Großmutter Ilse, die mit Kurt Weinberg verheiratet war. Auf ihrer Reise in die Familiengeschichte soll es über Hartenfels und Selters weiter nach Amsterdam gehen.

Isaak und Ida Weinberg, die Urgroßeltern von Rachel Goldenberg und Erika Strake, hatten sechs Kinder: Martha, Irma, Sally, Kurt, Else und Ruth. Die Familie lebte in Hartenfels und zog in den 1920er-Jahren nach Selters. Ruth Weinberg war die Großmutter von Rachel Goldenberg, Kurt Weinberg der Großvater von Erika Strake.

Auf dem Weg zum jüdischen Friedhof in Hartenfels, vorbei an der Burgruine, tauchen Rachel und Erika ein in die Vergangenheit. Am Friedhof angelangt, der in ihrem Kultus „der gute Ort“ heißt, blicken sie über die Heimat ihrer Vorfahren und entdecken etliche Grabsteine, auf deren verwitterten Inschriften der Name Weinberg sich abzeichnet. Erwartungsvoll liest Rabbi Rachel die hebräischen Grabsteintexte, und den verstorbenen Verwandten zum Gedenken singen die Amerikanerinnen hebräische Lieder mit hellen Stimmen. Rachel fügt noch einige Gebete hinzu.

Rivka Weissberg in den Armen ihrer „Mutter“ Jet Treurnier in Amsterdam 1944. Foto: privat

In Hartenfels wohnten die Großeltern Isaak und Ida Weinberg am Dammweg. Nach einigem Suchen finden die Besucherinnen aus den USA ein Haus unter der angegebenen Adresse. Sie sprechen mit der Bewohnerin, und es stellt sich heraus, dass hier das Haus der Weinbergs gestanden hatte, aber aufgrund einer defekten Elektroleitung abbrannte. Die Weinbergs zogen nach Selters, und der Nachbesitzer erbaute in Hartenfels ein neues Haus auf dem Grundstück. Aber die Scheune, die steht, zwischenzeitlich umgebaut, noch an ihrem alten Platze. Die betagte Besitzerin freut sich über das Interesse der beiden Damen. Und diese staunen nicht schlecht, als sie ihnen von Sally Weinberg, einem Sohn von Isaak und Ida, erzählt, den sie als einen freundlichen und ehrlichen Viehhändler beschrieb, der im ganzen Umkreis als solcher bekannt war.

Auf Judenfriedhof Selters gebetet

Auch in Selters sind die beiden sehr willkommen. Sie übernachten im Landhotel Adler, das sich unweit von der Stelle befindet, auf dem einst die Synagoge stand, die am 10. November 1938 demoliert und niedergebrannt wurde. Von hier aus ist es nicht weit zur Amtsstraße, wohin die Einwohner jüdischen Glaubens ins damalige Gerichtsgefängnis gebracht wurden und wo der Lehrer Siegfried Goldbach, verheiratet mit Mina geb. Weinberg aus Hartenfels, einer Verwandten, von einem Selterser Antisemiten in den Leib getreten wurde.

Auf dem Judenfriedhof in Selters finden Rachel und Erika weitere Namen ihrer Verwandten, auch hier singen und beten sie in hebräischer Sprache und legen zum Andenken kleine Steine auf die Grabstelen. Das ehemalige Wohnhaus der Großeltern in der Hochstraße erkennen sie anhand einer Fotografie, die sie dabei haben, sofort wieder, und sie sind erfreut, dass ihnen freundlich die Tür geöffnet wird und sie Einblicke in das Innere erhalten. Sehr ergriffen stehen sie anschließend über dem „Judenbad“ (Mikwe) in der Bahnhofstraße am Saynbach und entziffern die Inschriften der Stolpersteine, die in Selters von dem Künstler Gunter Demnig verlegt worden sind.

Kurt Weinberg zieht 1930 von Selters nach Frankfurt und emigriert, zusammen mit seiner Frau Ilse, in die USA. Auch seine Schwester Ruth Weinberg findet in den USA ihre Heimat; sie folgt ihrem Mann Albert Meschmar, der im August 1937 von Frankfurt nach New York auswandert.

Rabbi Rachel Goldenberg entdeckte bei ihrem Besuch auf dem Judenfriedhof in Hartenfels auf den alten Grabsteinen auch die Namen ihrer Vorfahren.
privat

Sally Weinberg hat eine heftige Auseinandersetzung mit einem Nazi, der ihn zutiefst beleidigt. Als er ihm darauf androht, er würde ihn umbringen verschärft sich der Konflikt, und Kurt flieht Hals über Kopf am 1. September 1937 nach Tel Aviv in Palästina. Das sollte später seinem Vater Isaak Weinberg das Leben retten. Nach dem Pogrom 1938 nimmt der Druck so zu, dass alle Juden Selters verlassen.

Am 19. Dezember 1938 ziehen Isaak und Ida Weinberg nach Frankfurt in die Bleichstraße 6, wahrscheinlich zu Verwandten. Von hier aus fahren sie im März 1939 nach Holland zur Hochzeit ihrer Tochter Else in La Hague, die zusammen mit ihrem Mann Dr. Benno Weissberg ausgewandert ist, da sie in Deutschland keine Arbeit bekommen. Der Kölner Dr. Weissberg ist Zahnarzt, Else Buchhalterin. In Rotterdam eröffnen beide eine Zahnklinik. Elses Eltern kehren nicht nach Deutschland zurück, sondern bleiben in La Hague.

Holländer retten jüdische Kinder

Im Mai 1940 wird Holland überfallen, und die deutsche Luftwaffe bombardiert Rotterdam in Schutt und Asche. Else flüchtet sich mit Benno und ihren Eltern nach Arnheim. Im Mai 1941 kommt Samuel zur Welt; zehn Monate später stirbt der Kleine an Darmverschlingung. Vier Wochen später beginnen die „Aktionen“, alle Juden, die 16 und über 16 Jahre alt sind, werden über das „Durchgangslager“ Westerbork nach Theresienstadt, Sobibor, Auschwitz oder Bergen-Belsen transportiert. Elses Eltern kommen von Westerbork aus in das „Aufenthaltslager Bergen-Belsen“.

Auch Benno und Else werden nach Westerbork gebracht, Else ist im achten Monat schwanger. Benno hat viel Geld bezahlt, um zusammen mit Else auf eine Liste unabkömmlicher Juden zu kommen, und da sie schwanger ist, bekommen sie die Erlaubnis, das Lager zu verlassen und nach Amsterdam zu fahren.

Gewarnt, nicht im jüdischen Krankenhaus entbinden zu lassen, kommt die kleine Rivka im Hause eines jüdischen Arztes im März 1943 zur Welt. Was nun?

Mutige und hilfsbereite Holländer, die im Untergrund gegen die Nazis arbeiten, Juden verstecken, sie mit Lebensmitteln versorgen und jüdische Säuglinge insgeheim an liebevolle holländische Frauen vermitteln, bieten ihre Hilfe an.

Um das Baby zu retten, tauchen die Weissbergs unter und übergeben Rivka heimlich einer Frau in Amsterdam, Jet Treurniet, deren Mann im Lager Buchenwald inhaftiert ist. Zweieinhalb Jahre sorgt Jet für Rivka an Mutter statt, trotz der großen Gefahr, die ihr dabei drohte, wenn sie erwischt würde: Abtransport in ein deutsches „Arbeitslager“. Nach dem Krieg übergibt sie Rivka ihren leiblichen Eltern, die sich bis dahin getrennt versteckt hielten. Auf diese Weise werden insgesamt 4500 jüdische Kinder durch die Liebe fremder „Mütter“ im Untergrund-Netzwerk gerettet; die bekanntesten Hilfsgruppen sind die „Namenlose Gesellschaft“, die „Amsterdamer Studentengruppe“ und das „Utrechter Kinderkomitee“. 1949 ziehen Else und Benno Weissberg mit ihren Kindern Rivka, Judith und Joel von Amersfoort nach Israel.

In Bergen-Belsen müssen sich ab 1942/43 Zivilgefangene aufhalten, die gegen Devisen oder Auslandsdeutsche ausgetauscht werden. Da Sally unter britischem Mandat in Palästina lebt, kommen seine Eltern auf die Liste derjenigen, die gegen Angehörige deutscher Templer, deren Männer sich freiwillig in Hitlers Armee begeben haben, ausgelöst werden. Leider stirbt Ida Weinberg 69-jährig am 3. März 1944 in Bergen-Belsen, aber ihr Mann Isaak steht auf der Liste für den Austausch, die der aus Hachenburg stammende SS-Lagerkommandant von Bergen-Belsen, Adolf Haas, am 27./29. April 1944 – acht Wochen nach Idas Tod – verliest; Isaaks Name erscheint als letzter auf der Liste.

Isaak Weinberg kann am 30. Juni 1944 im Zuge des dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustauschs zusammen mit rund 270 Personen über Celle, Wien, Belgrad, Istanbul und Beirut nach elf Tagen Bahnfahrt das Lager Athelit in Palästina erreichen, in dem vorher die Austausch-Angehörigen der Templer gefangen gehalten wurden. In Athelit schließen sich Vater Isaak (81) und Sohn Sally Weinberg (42) im Juli 1944 weinend in die Arme.

Martha und Irma Weinberg überleben mit ihren Familien den Holocaust nicht. Martha, ihr Mann Julius Löwensberg sowie die Kinder Marion und Inge sind im „Osten verschollen“, ihr letzter Wohnsitz war Wiesbaden. Irma und ihr Mann Walter Haas, der aus Grenzhausen stammte, sind samt ihren Kindern Ilse und Ingfried in Minsk „verschollen“; zuletzt wohnten sie in Frankfurt/Main.

Frankfurt, Gelnhausen, Hartenfels, Selters, Amsterdam – das sind die Stationen der Amerikanerinnen auf der Reise in ihre deutsche Vergangenheit. Wieder zurück in den USA, berichten Goldenberg und Strake von der Heimat ihrer Vorfahren, und wie sie Deutschland erlebt haben. Ihre Kinder können es kaum erwarten, ebenfalls nach Deutschland zu kommen.

Wunden sind noch nicht verheilt

Die älteren Angehörigen sind zurückhaltender. Sie können kaum glauben, was ihnen erzählt wird, von Deutschland und den Deutschen, das und die sie so nicht kennen. Die Wunden ihrer schmerzlichen Erfahrungen sind noch nicht verheilt. Rachel Goldenberg schreibt: „Meine Mutter scheint wirklich noch nicht zu verstehen, warum ich so gern in Deutschland war.“ Dr. Uli Jungbluth

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