Langsam, ja fast bedächtig bewegt sich Gary vorwärts, um die Spitze des saftig-grünen Salatblattes zu beißen zu kriegen. Dabei hält er seine beiden Seh- und seine zwei Riechfühler in Bewegung. Gary ist eine Große Achatschnecke (auch Ostafrikanische Riesenschnecke genannt). Seit gut zwei Jahren setzt die Hachenburger Logopädin Anne Bahlmann das Tier und einige weitere Artgenossen zu therapeutischen Zwecken ein. Sie zählt damit zu den Pionieren auf diesem Gebiet in Deutschland.
Ob mit Hunden, Pferden oder Delfinen: Tiergestützte Therapieformen sind längst keine Seltenheit mehr. Schnecken allerdings spielen als Assistenten bislang noch eine eher untergeordnete Rolle, wie Bahlmann im Gespräch berichtet. Doch das könnte sich ändern, bietet sie doch selbst inzwischen Fortbildungen für Berufskollegen dazu an. Zudem ist vor Kurzem ein Beitrag über sie und ihr Konzept in der Fachzeitschrift des Deutschen Bundesverbands für Logopädie (forum:logopädie) erschienen.

Bahlmann hat das Angebot vor rund 2,5 Jahren in ihrer Praxis Bahlmann & Krämer im Hachenburger Stadtteil Altstadt etabliert – und seither viele positive Erfahrungen gesammelt. Zu den exotischen Achatschnecken, die bis zu 26 Zentimeter lang werden können, kam sie durch eine Bekannte, die einige Exemplare der übergroßen „Schleimer“ abzugeben hatte. Nach einem kurzen Austausch mit einer Kollegin stand der Entschluss fest, die Tiere zu übernehmen. „Ich habe mich intensiv in das Thema eingelesen. Leider gibt es noch nicht allzu viel Literatur dazu. Aber immer wieder wird die Langsamkeit der Schnecken als therapeutischer Nutzen hervorgehoben, der zur Entschleunigung führt“, berichtet Bahlmann.

Sie selbst ist auf einem Gestüt groß geworden, hat privat drei Hunde und ein Pferd. Von daher weiß sie aus eigener Erfahrung um die Wirkung von Tierkontakten. Nach einer Weiterbildung zur Trainerin für tierbegleitende Förderung/Achatschnecken (Schneckentrainerin), in der sie die artgerechte Haltung der Tiere erlernte, und nachdem sie ein Konzept für den spezifischen Einsatz in der Logopädie geschrieben hatte, konnte es Ende 2022 im Praxisalltag losgehen.

So wendet sie diese Therapieform beispielsweise bei Kindern an, die Probleme bei der Artikulation von Anfangslauten wie „sch“ und „ch„haben. Patienten, die Schwächen in der richtigen Anwendung von Präpositionen aufweisen, können Sätze trainieren, in denen sie angeben, wo sich die jeweilige Schnecke gerade befindet (zum Beispiel „auf dem Salatblatt“, „hinter dem Apfel“ oder „im Terrarium“). Darüber hinaus übt Bahlmann mit Kindern, denen der Satzbau schwerfällt, einfache Sätze wie etwa „Die Schnecke frisst Salat“ oder „Die Schnecke kriecht über die Hand“ ein.
Zugleich können die jungen Patienten unter Anleitung der Logopädin ihren Wortschatz erweitern, indem sie Körperteile der Schnecke oder verschiedene Futtersorten benennen. Bei Menschen mit Mutismus (psychogenes Schweigen) können Tiere (in dem Fall die Schnecken) Türöffner zumindest für eine intensivere non-verbale oder sogar eine einfache verbale Art der Kommunikation sein, wie Bahlmann erlebt hat.

Die Expertin hat eigene Lehrmittel und Arbeitsblätter zum Thema erstellt, die sie vor allem bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche oder solchen mit Problemen bei der Mundmotorik einsetzt. Bei hyperaktiven Patienten, so die Logopädin, reiche es vielfach aus, wenn diese den Tieren mit ihren langsamen Bewegungen eine gewisse Zeit zuschauten, um runterzukommen und ruhiger zu werden. Wer möchte, kann die Schnecken aber auch auf die Hand nehmen und streicheln. Der Kreativität seien keine Grenzen gesetzt, so Bahlmann.
Sie selbst ist von den Tieren, deren Wesen sie als neugierig und „zutraulicher als man denkt“ beschreibt, fasziniert. Sie findet die Schnecken „spannend“ „genügsam“ und „interessant“. Sie förderten die Konzentration und die Motivation. Das einzig Mühsame bei der Pflege sei die regelmäßige Eierentnahme aus der Erde, damit die Schnecken sich nicht unkontrolliert vermehrten.

Bahlmann: Handhygiene ist wichtig
Die Große Achatschnecke kommt überwiegend in Ostafrika, auf dem indischen Subkontinent, in Südost-Asien, in Ozeanien und in der Karibik vor. Sie hat es gerne warm, weshalb Anne Bahlmann das Terrarium mit ihren derzeit fünf Tieren beheizt. Die Schnecken sind Allesfresser, bevorzugen aber überwiegend Salat, Obst und Gemüse. Die Erde im Terrarium sollte gekalkt sein, da Kalk für das Wachstum und den Häuserbau wichtig ist. Großen Wert legt Bahlmann auf eine gründliche Handhygiene vor und nach menschlichem Kontakt mit den Tieren, die in einigen Regionen der Welt als Spezialität auf dem Teller landen. Durch den Verzehr können jedoch Krankheiten übertragen werden. Die Achatschnecken besitzen sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsteile, sodass sich stets zwei Tiere paaren können. Ihre Gehäuseform ist konisch und läuft spitz zu. Auflagen für die Haltung gibt es in Deutschland nicht. In anderen Ländern, wo die Schnecke frei lebt, wird sie allerdings als invasive Art verfolgt. nh
