Aufnahmestopp in vielen Praxen
Kinderärztliche Versorgung im Westerwald ist angespannt
Die Suche nach einem Kinder- und Jugendarzt kann für Familien im Westerwald zu einer echten Herausforderung werden. Die Nachbesetzung freier Pädiaterstellen gestaltet sich oftmals schwierig.
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Das Baby hustet, oder bei ihm steht eine der Regel-Vorsorgeuntersuchungen an, doch die Eltern finden keine kinderärztliche Praxis, die den kleinen Patienten aufnimmt und versorgt: Diese Situation ist längst keine Seltenheit mehr im Westerwald.

Der Kreisvorstand von Bündnis 90/Die Grünen im Westerwald schlägt in Sachen kinder- und jugendärztliche Versorgung in der Region Alarm: Die Realität und die statistische Beurteilung der Situation klafften weit auseinander, heißt es in einer Pressemitteilung.

Darin beziehen sich die Grünen auf die Antwort der Landesregierung und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) auf eine Anfrage der CDU-Fraktion im Landtag vom Herbst vergangenen Jahres. Die Einordnung statistischer Werte durch das Gesundheitsministerium in Mainz wichen demnach deutlich vom alltäglichen Geschehen in den Kinderarztpraxen ab, die vielerorts überlastet seien und einen Aufnahmestopp für neue Patienten verhängt hätten. Auch in benachbarten Regionen wie Koblenz und Neuwied, die zeitweise den Bedarf aus dem Westerwald noch mit hätten auffangen können, seien die pädiatrischen Praxen aktuell derart überlastet, dass sie ebenfalls zunehmend gezwungen seien, Neupatienten abzulehnen, schreiben die Grünen.

Prekäre Situation in der Erkältungssaison

Dieser Umstand habe insbesondere in der zurückliegenden Erkältungssaison seit Oktober zu einer äußerst prekären Versorgungssituation für Kleinkinder und Säuglinge im Krankheitsfall geführt. Zudem könnten momentan zahlreiche Vorsorgeuntersuchungen nicht wie in den Richtlinien vorgesehen durchgeführt werden. Laut Zahlen der KV seien aktuell 10,75 Vollzeitstellen an Kinderärzten im Westerwaldkreis vorhanden. Damit sei der notwendige Bedarf zu 86,66 Prozent gedeckt. „Bei einer 100-prozentigen Versorgungslage wären jedoch weitere 1,5 Vollzeitstellen erforderlich“, heißt es weiter. Diese 1,5 Stellen würden die Gesamtsituation deutlich verändern: Derzeit sei ein Kinderarzt in Vollzeit für 3250 Kinder unter 18 Jahren zuständig. Bei einer vollständigen Bedarfsdeckung wären es circa 400 kleine Patienten pro Vollzeitpädiater weniger, so die Grünen weiter.

Die Lücke in der Versorgung führe in der Realität zu erheblichen Herausforderungen – für Praxen, Eltern und Kinder. Gerade neu zugezogene Familien und Eltern mit Neugeborenen berichteten von erheblichen Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Praxis. Für viele Familien bleibe im Krankheitsfall daher oft nur der Gang zum Allgemeinmediziner, wobei auch diese Gruppe überlastet und zum anderen fachlich nicht entsprechend für die dauerhafte Behandlung von Kindern geschult sei.

Zu wenige niederlassungswillige Mediziner

Besonders kritisch sehen die Grünen die Methodik, wie Unter- beziehungsweise Überversorgung in den Richtlinien definiert würden. Erst bei einem Versorgungsgrad unter 50 Prozent werde ein Zustand der Unterversorgung deklariert, während eine Überversorgung bereits bei einem Überschuss von 10 Prozent festgestellt werde. Diese Grenzen seien aus ihrer Sicht rein aus wirtschaftlichen Perspektiven definiert, so die Bündnisgrünen. Soziale Erfordernisse, räumliche Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen sowie die demografische Struktur der Ärzte würden dabei außer Acht gelassen. Deshalb fordern sie eine „deutlich differenziertere Analyse“.

Das Landesgesundheitsministerium erklärt auf Anfrage unserer Zeitung, dass es im Westerwald mehr freie Kinderarztsitze als niederlassungswillige Mediziner gebe. Die Region benötige daher keine neue Bedarfsplanung (die übrigens im Bereich der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung durch die Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen erfolge), sondern sie müsse für junge Kinderärzte attraktiver werden, zum Beispiel durch verbesserte Rahmenbedingungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wichtig sei außerdem die Schaffung von Anstellungsmöglichkeiten in Praxen und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), da sich ein zunehmender Teil der jungen Ärzte nicht mehr freiberuflich mit einer eigenen Praxis niederlassen wolle, sondern eine Tätigkeit im Angestelltenverhältnis bevorzuge.

Ministerium: Schwelle zur Unterversorgung wurde kürzlich erhöht

Im Hinblick auf die Definition von Unter- beziehungsweise Überversorgung weist das Ministerium darauf hin, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erst vor wenigen Wochen im Bereich der kinderärztlichen Versorgung die Schwelle zur Unterversorgung von 50 auf 75 Prozent erhöht habe. Somit könnten die verschiedenen Förderinstrumente früher entfaltet werden.

Um auch Kommunen bei der Initiative zur Gewinnung von ärztlichem Nachwuchs oder zur vorausschauenden Begleitung von Praxisübergängen zu unterstützen und die Chancen und Risiken der Gründung kommunaler MVZ aufzuzeigen, fördere die Landesregierung im Rahmen eines Masterplans zur Stärkung der ambulanten ärztlichen Versorgung in Rheinland-Pfalz eine Beratungsstelle bei der KV. Der erwähnte Masterplan werde regelmäßig weiterentwickelt, so ein Sprecher des Ministeriums.

Finanzielle Förderung zur Ansiedlung ist möglich

Darüber hinaus befürworte die Landesregierung die Bildung von Weiterbildungsverbünden auf regionaler Ebene. Seit 2024 könnten Kinderärzte zudem bei Niederlassungen, Zweigpraxen oder Anstellungen im Rahmen eines Förderprogramms mit jeweils bis zu 20.000 Euro bezuschusst werden. Aktuell zähle beispielsweise der Landkreis Altenkirchen zu den Fördergebieten. Im Westerwaldkreis greife für die ambulante Pädiatrie ein ähnliches Förderprogramm der KV. Das Ministerium ist zuversichtlich, dass aufgrund diverser Maßnahmen in den kommenden Jahren mit einer steigenden Zahl niederlassungswilliger Kinderärzte zu rechnen sei.

Nach Einschätzung der KV wird eine flächendeckende medizinische Versorgung künftig nur durch die Konzentration von Einrichtungen, längere Wege für die Patienten, den Ausbau der Delegation nicht-ärztlicher Fachkräfte, gezielte Telemedizin-Nutzung sowie flexible und temporäre Modelle möglich sein. Die in den 1990er-Jahren abgebauten Medizinstudienplätze führten dazu, „dass die heute zur Verfügung stehenden Studienplätze nicht ausreichen, um genügend Ärztinnen und Ärzte auszubilden“, heißt es.

Insbesondere in der Erkältungssaison kann es stellenweise zu Engpässen bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Krankheitsfall kommen. Das führt nach Einschätzung von Bündnis 90/Die Grünen im Westerwald dazu, dass zahlreiche Vorsorgeuntersuchungen nicht wie in den Richtlinien vorgesehen durchgeführt werden können.
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In Rheinland-Pfalz seien bereits mehr als 370 Haus- und Facharztsitze unbesetzt – Tendenz steigend. Folglich müssten die verbliebenen Ärzte mit weniger Arbeitszeit einen wachsenden Behandlungsbedarf bewältigen, Überlastung sei Alltag. Besonders in ländlichen Regionen häuften sich Engpässe, deren Bewältigung immer schwieriger werde. Hier müsse die Politik handeln und die starre Bedarfsplanung reformieren. Die KV habe aber einige Maßnahmen (Weiterbildungen, finanzielle Förderungen etc.) im Portfolio, um die Versorgungssituation gerade auf dem Land zu verbessern. In der Tat bildeten die errechneten Versorgungsgrade häufig nicht den tatsächlichen ambulant-medizinischen Bedarf der Bevölkerung ab.

Die KV im Land kritisiere die Bedarfsplanung in ihrer jetzigen Form seit Langem, denn die Steuerung der Arzt- und Psychotherapeutenzahlen in ihrer bestehenden Form sei längst überholt. Die gültigen Zulassungsbeschränkungen seien nicht mehr zeitgemäß. „Wir brauchen eine umfassende Reform“, teilte eine Sprecherin mit.

Zusätzlich stehe die KV im Austausch mit der Ärzteschaft und den Kommunen – so auch im Westerwald. Hier finde ein regelmäßiger Kinderärztlicher Dialog statt, um die Versorgung gemeinsam zu stärken. Städte und Gemeinden könnten das Angebot „Ort sucht Arzt“ nutzen, um ihre Attraktivität für niederlassungswillige Ärzte aufzuzeigen.

Hoher Bedarf bei Nachbesetzungen

Der aktuelle Nachbesetzungsbedarf für Kinder- und Jugendärzte im Westerwaldkreis – bezogen auf die Köpfe – liegt laut Kassenärztlicher Vereinigung (KV) Rheinland-Pfalz bei 46 Prozent. Der Nachbesetzungsbedarf beschreibt den Anteil von Versorgungsaufträgen, der potenziell auf Basis der berechneten Austrittswahrscheinlichkeit und aufgrund der aktuell laut Bedarfsplanung festgestellten freien Sitze wiederzubesetzen wäre, um den Status quo der Versorgung sicherzustellen. Trends wie zunehmende Morbidität durch die Alterung der Bevölkerung und die abnehmende Arbeitszeit der neuen Ärztegeneration bleiben hierbei unberücksichtigt, so die KV weiter. Die Berechnung basiert auf dem Austrittsverhalten von Ärzten sowie Psychotherapeuten aus der vertragsärztlichen Versorgung in den vergangenen fünf Jahren. Kurzfristige Trends fänden hier keinen Niederschlag, heißt es. nh

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