Ende April hatte unsere Zeitung Kontakt zu Kevins Mutter Viktoria Lick aufnehmen können. Zu der Zeit war der in Dernbach geborene und bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Montabaur aufgewachsene Junge bereits seit 13 Monaten inhaftiert. „Ich wollte meinen Sohn aus dem Krieg rausholen, aber er bat mich, ihn in Russland die Schule beenden zu lassen. Bildung ist ihm sehr wichtig, er liebt es zu studieren. Ich wartete etwa sechs Monate auf ein Visum und dann passierte das. Ich habe ihn nicht rechtzeitig rausgeholt. Es war meine Schuld, dass ich 2017 mit ihm nach Russland zurückgekehrt bin. Es war eine Illusion, und ich habe für diesen Fehler mit meinem Sohn bezahlt“, schrieb uns seine Mutter damals.
Am Tag der geplanten Ausreise verhaftet
Als Viktoria Lick sich Anfang des Jahres um Visa für die Ausreise nach Deutschland bemüht hatte, wurde sie zunächst selbst für mehrere Tage festgesetzt – die ersten gebuchten Flüge verfielen. Sie kam frei und bekam schließlich die Visa. Mutter und Sohn waren bereits in Sotschi, von dort sollte der Flug nach Deutschland gehen. An dem Tag, als die beiden gemeinsam Russland verlassen wollten, wurde Kevin festgenommen.
Mehr als 16 Monate war der im Westerwald geborene Kevin Lick in Russland inhaftiert. Nun scheint er unter den 16 russischen Gefangenen zu sein, die auf Vermittlung der Türkei im Austausch gegen Geheimdienstler, Spione und wohl auch den sogenannten Tiergartenmörder Vadim Krasikov freigelassen wurden.Gefangenenaustausch in der Türkei: Westerwälder Kevin Lick ist aus russischem Straflager frei
Vorwurf: Spionage für Deutschland
Der Vorwurf, im April von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur „TASS“ veröffentlicht: „Kevin Lick, ein 18-jähriger Staatsbürger der Russischen Föderation und Deutschlands, der wegen Hochverrats verurteilt wurde, hoffte, im Austausch für die von ihm gesammelten Informationen eine Vorzugsbehandlung bei der Einschreibung in eine deutsche Bildungseinrichtung und eine künftige Anstellung im deutschen Geheimdienst zu erhalten.“ Zu vier Jahren Haft in einem Straflager wurde Kevin Lick, damals 18 Jahre alt, verurteilt, das Urteil hatte im Mai der Oberste Gerichtshof bestätigt, wie die Mutter schrieb.
Zwei Wochen war Sohn verschollen
Im Juni – Wolfgang Grineisen aus Hemmelzen im Kreis Altenkirchen hatte gerade einen persönlichen Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin geschickt mit der Bitte, Kevin freizulassen – berichtete Viktoria Lick unserer Zeitung, ihr Sohn sei aus dem Gefängnis in Tljustenchabl auf den Weg nach Archangelsk gebracht worden. Zwei Wochen habe sie schon nichts mehr von ihrem Sohn gehört, wisse nichts über seinen Verbleib. Zuvor hatte sie ihren Sohn zweimal monatlich besuchen dürfen. Gespräche mit ihm waren ihr nur per Telefon gestattet, getrennt durch eine Glasscheibe. Zwischendurch brachte sie ihm Kleidung und Lebensmittel, winkte zu dem vergitterten Fenster hinauf, hinter dem sie ihren Sohn vermutete. „Er winkt zurück“, war sie sicher, dass die bleiche Hand zwischen den Gitterstäben Kevins war.
Vorigen Freitag zuletzt telefoniert
Irgendwann kam der junge Mann in Archangelsk an – einem Ort an der Dwinamündung, mehr als 2500 Kilometer von Maikop entfernt, wo Viktoria Lick ausharrte. In einem „Jugendgefängnis“ sei er dort inhaftiert gewesen, schreibt Viktoria Lick uns. Am Freitag voriger Woche habe ihr Sohn sie von dort zuletzt angerufen. Dann hieß es aus der Haftanstalt, er sei „nach Moskau gebracht“ worden.
Immer auf Austausch gehofft
Kevins Mutter hatte von Anfang an große Hoffnungen, dass ihr Sohn durch einen Gefangenenaustausch freikommen könnte und auch der junge Mann selbst habe stets darauf gebaut, dass die deutsche Regierung sich erfolgreich für ihn einsetzen werde. Allerdings bleiben solche Verhandlungen immer strikt geheim, um trotz vielfältiger Einflussnahme überhaupt zu einem Abschluss zu kommen.
Landrat froh über Freilassung
Der Landrat des Westerwaldkreises, Achim Schwickert, hatte sich bei der Regierung für Kevin eingesetzt. „Der Sachverhalt war in den Ministerien bekannt, und ich habe ihn noch mal dort angetragen. Ich habe nichts von dort gehört – und werde auch nichts hören“, sagt er. Dazu sei strikte Geheimhaltung zu wichtig, um in diesen und späteren Verhandlungen positive Ergebnisse erzielen zu können. „Ich bin froh um jeden Menschen, der aus politischen Gründen in einem anderen Staat einsitzt und freikommt“, sagt Schwickert. „Wenn es ein Westerwälder ist, ist es für den Westerwald besonders schön“, fügt er an.
Geiseln für Austausch genommen?
Schwickert betont: „Grundsätzlich gilt das für alle Freigelassenen, insbesondere für die, die festgehalten werden, weil sie Teil eines Deals werden können.“ Schon als Kevins Schicksal hierzulande bekannt wurde, gab es in Korrespondentenkreisen Spekulationen, dass über Monate insbesondere russische Bürger mit zweiter Staatsbürgerschaft wegen ähnlicher Vorwürfe wie der junge Westerwälder inhaftiert und verurteilt worden seien, um im Austausch gegen sie im Ausland einsitzende russische Agenten oder Straftäter freizubekommen. Es wurde bereits der Name des „Tiergartenmörders“ Wadim Krassikow genannt.
Keine Nachricht mehr von Mutter
Seit Kevin Lick auf der Liste der ausgetauschten Gefangenen aufgetaucht ist, ist Viktoria Lick kaum noch zu erreichen. Eigentlich wollte sie sich melden, sobald sie mit ihrem Sohn sprechen konnte. Seine Unterstützergruppe hatte auf Telegram vermeldet, dass Kevin sie von Ankara aus anrufen konnte. Seither werden die Nachrichten an Viktoria Lick zwar gelesen, doch seit geraumer Zeit nicht mehr beantwortet. Ein kurzes „Ich fahre bald nach Deutschland“ war die letzte Nachricht – und die Zweifel wachsen, ob Kevins Mutter selbst diese Zeilen verfasst hat.