Nein, es gibt kein Fotoalbum, keine Geburts- oder Sterbeurkunden auf dem Tisch, als Ursula Zammert (69) gemeinsam mit ihrer in der Schweiz lebenden Verwandten Christiane Faschon (71), die über das Handy dazugeschaltet ist, über das Schicksal zweier Familienangehöriger zu berichten beginnt. Über die angeheiratete Tante, die in Hadamar einen sogenannten Krankenmord erlitt, wissen die beiden Nachfahren wenig. Nur, dass sie stark depressiv und in der Klinik Herborn war – und schließlich von den Nazis in Hadamar getötet wurde.
Ein Unglück gab den Anlass
Anders sieht es mit dem männlichen Vorfahren aus, der ebenfalls in der Hadamarer „Landesheilanstalt“ ermordet wurde – als junger Mann, am 13. Januar 1941. Er lebte in einem kleinen Dorf im Oberwesterwald in einer Familie, von der bekannt war, dass sie nicht der Naziideologie huldigte. Ein schreckliches Unglück gab den Anlass, dass der junge Mann, der nach einer Hirnerkrankung Einschränkungen hatte und sowieso schon gefährdet war, in eine Anstalt abtransportiert und am Ende in Hadamar vergast wurde: Er hatte einen Streit mit einem jungen Mann auf dem Feld; dieser trug eine ungesicherte Sichel und rannte vor ihm davon, stürzte und verletzte sich tödlich. Er, der schon für die Nazis als nicht vollwertig galt, galt nun als nicht zurechnungsfähig.
Die Mutter, deren Schwester (die Großmutter von Faschon) und deren Tochter konnten den jungen Mann, der in der Anstalt Herborn schrecklichen Hunger litt und deutlich Zeichen der Gewalt am Körper trug, noch besuchen. „Es ist ihnen sehr schwergefallen, erst zu Fuß zum Bahnhof und dann mit dem Zug nach Herborn zu kommen. Es war kaum Geld da, und es kostete einen ganzen Tag.
Am Ende mussten sie unverrichteter Dinge wieder zurück, ohne ihn gesehen zu haben“, weiß Faschon. Nachdem sie die Todesnachricht (mit einem falschen Datum) erhalten hatten, wollten die drei den jungen Mann nochmals sehen und reisten nach Hadamar. Doch sie wurden brutal am Eingang zu der „Heilanstalt“ davongejagt. „Haltet den Mund“, riet man ihnen auf Nachfrage in einer nahe gelegenen Gaststätte.
Trauma holt die Mutter ein
„Als meine Mutter dement wurde, kamen diese Erinnerungen zurück und überwältigenden sie. Sie litt unter schrecklichen Ängsten. Einmal rief man mich aus einer Klinik an, ich solle die Mutter abholen. Sie schreie beim Anblick der weißen Kittel, dass man sie ermorden wolle“, schildert Faschon. Das als Kind erlittene Trauma holte ihre Mutter im Alter wieder ein. Sie hatte als junges Mädchen ja Mutter und Tante in die Anstalt und nach Hadamar begleitet. Nun durchlebte die demente alte Dame, die aus dem Westerwald stammt, ihre erlittenen Ängste, als würden sie gerade jetzt passieren. „Die Angst aus den Krankenmorden kam in der Demenz zurück. Sie glaubte, man werde sie ermorden in einem Heim oder Spital“, so Faschon.
Es ist erschütternd zu hören, dass Geschehenes noch immer tabuisiert wird. Ja, es ist immer schmerzlich, sich dunklen Seiten zu stellen, sei es der eigenen Biografie, der Familienvita oder der Nationalgeschichte.Kommentar von Angela Baumeier zum Thema Stolpersteine: Aktiv werden gegen das Vergessen
In der Familie, so schildert auch Zammert, war das Schicksal der beiden Ermordeten bekannt. Ja, darüber sei gesprochen worden, aber eher beiläufig. So wie auch in der Region wahrgenommen worden sei, wie der Rauch aus den Schornsteinen der Tötungsanstalt roch.
„Die Krankenmorde sind noch immer ein Tabuthema“, weiß Faschon, die sich seit Jahren auch wissenschaftlich damit auseinandersetzt. Doch die Menschen, die in Hadamar und in den anderen Tötungseinrichtungen ermordet wurden, und ihr entsetzliches Schicksal dürften nicht in Vergessenheit geraten, ist sie sich mit Ursula Zammert einig. Aber es sei schwierig, überhaupt etwas konkret über deren Leben zu erfahren. Mussten die beiden Menschenversuche über sich ergehen lassen? Dass das Todesdatum nicht stimmte, zeigte eine Nachforschung in Hadamar. Viele Fragen sind nur bedingt zu beantworten, denn die Akten, die darüber Aufschluss geben könnten, haben die Nazis teilweise vernichtet.
Erinnerung und Identität
„Wir möchten erreichen, dass für unseren Verwandten ein Stolperstein gesetzt wird“, sagen Zammert und Faschon. Sie wollen nichts unversucht lassen, um an ihre beiden in Hadamar von den Nazis ermordeten Verwandten zu erinnern und ihnen ihre Identität wiederzugeben.
„Unwertes Leben“, über dieses Konzept hat die Theologin und Journalistin Faschon, die sich intensiv mit der Geschichte der Eugenik und sogenannten Euthanasie beschäftigt hat, viel nachgedacht. Gerade angesichts der aktuellen Weltlage sei das eine Frage mit hoher Brisanz, die Aufklärung verlange: Wie viel Wert hat welches Menschenleben? Darum sei es auch an der Zeit, die sogenannten Krankenmorde ins Gedächtnis der Gesellschaft zu rücken, so ihre Forderung.
Hintergrund
Am 26. März 1945 befreiten US-amerikanische Soldaten die überlebenden Patientinnen und Patienten der damaligen Landesheilanstalt Hadamar und beendeten den dortigen systematischen Krankenmord. In einer Gedenkveranstaltung wird am 26.
März 2024 im Festsaal der Vitos-Klinik Hadamar an die Menschen, die im Rahmen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ verfolgt und ermordet wurden, erinnert. In der Klinik in Hadamar wurden etwa 14 500 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in der Gaskammer, durch tödliche Injektionen oder Medikamente ermordet, andere ließ man verhungern, erläutert Faschon. bau