Im Nu macht sich Adriana Altaras zum Teil der anwesenden Literaturfreunde und freut sich aufrichtig über die Begrüßungen von Delya Gorges (Leiterin der Stadtbibliothek) und Thomas Pagel („Hähnelsche Buchhandlung“).Da fügt es sich gut, dass Adriana Altaras nicht alleine angereist ist. Heute ist nämlich auch ihre italienische Tante, die schöne „Teta Jele“, in literarischer Weise mit von der sonnigen Partie, und das entpuppt sich bald als unbeschreibliches Vergnügen.
Bevor Adriana Altaras zum ersten Telefonat mit „Tante“ ansetzt, dekoriert sie noch kurz das Lesepult um und schwingt sich auf die Tischkante – viel besser, findet sie, denn nun kann sie unmittelbar Kontakt zu ihrem Publikum aufnehmen. Die jüdische Autorin mit kroatischen Wurzeln hat keineswegs die Absicht, einfach nur aus ihrem jüngsten Werk vorzulesen.
Von Anfang brennt sie darauf, Gespräche zu führen, Fragen zu beantworten und ihre Bestürzung über die aus den Fugen geratene Welt mit dem Publikum zu teilen. Vor allem aber gibt Adriana Altaras Einblicke in die von Liebe, Auseinandersetzungen und Familiengeschichte geprägten Beziehung zu „Teta Jele“, und das tut sie in grandios inszenierten Dialogen, wie sie nur einer reifen, leidenschaftlichen und vom Thema durchdrungenen Schauspielerin und Regisseurin gelingen können.
Mitten hinein ins Buch: „Tante“ ist unglücklich, denn sie kann wegen der Pandemie ihren 100. Geburtstag nicht feiern. Sie, die neben der Spanischen Grippe auch das KZ und ihre norditalienische Schwiegermutter überlebt hat, lässt sich davon nicht ausbremsen. Doch nun sitzt sie eingesperrt im Pflegeheim und muss sich aufs Telefonieren mit ihrer in Deutschland lebenden Nichte beschränken, was ihr gar nicht passt.
Seit Adriana mit vier Jahren in ihre Obhut übergeben wurde, hat sie ihr Ratschläge erteilt, sie durch alle Lebensphasen begleitet und ihr auch beigestanden, als die Nichte nach 30-jähriger Ehe verlassen wird. Nun schickt sie ihre kernigen, manchmal auch brisanten Sprüche durch den Hörer, sehr zur Verzweiflung Adrianas, die es nicht nur mit der unbezwingbaren aristokratischen Attitüde, sondern auch mit der zunehmenden Tüdeligkeit ihrer Tante aufnehmen muss.
Ein Umzug nach Deutschland steht für die nicht zur Debatte, denn da gibt es nur Kartoffeln („Ein längeres Leben hat man mit Pasta!“). Und deshalb erinnern sich die Tante und Nichte nun halt in ihren Telefonaten an das, was vergangen ist. An die Jugendjahre Jeles in Zagreb, an ihre Flucht nach Mantua mithilfe von Georgio, ihrem späteren Ehemann, an die Tage am Gardasee, in denen die Hochbetagte Trost-Pasta für die sitzen gelassene Nichte zubereitet, und an Adrianas Mutter, die ganz und gar anders ist als ihre forsche Schwester.
Die Autorin schildert all das zartfühlend und mit Respekt vor der Unerschütterlichkeit, mit der ihre Tante ihr Schicksal bis zum Tod im Alter von 101 Jahren meisterte, und zeigt zugleich selbst ganz viel Mut und Entschlossenheit. Ihr eindringlicher Appell, eine Wiederholung des Holocaust nicht zuzulassen, ihre Fassungslosigkeit über die Lage in Israel und Gaza und der intensive, ehrliche Austausch mit dem Publikum berühren zutiefst.
Was die Zuhörer an diesem Abend erlebten, war keine Lesung. Es war die Begegnung mit einer begnadeten Literatin, die zur Freundin, zur Weggefährtin, zur Beraterin und zur Mahnerin wurde. Mit ihrem umwerfenden, nie plumpen Humor, der sich aufs Einfühlsamste mit ihrer Klugheit, ihrer Lebensfreude, aber auch mit ihrer Sorge um die Zukunft verwob, verschenkte sich Adriana Altaras sozusagen selbst. Und das ist für alle, die sich den „Westerwälder Literaturtagen“ verbunden fühlen, eine Geste von unschätzbarem, bleibendem Wert.