Ukrainische Flüchtlinge werden im Westerwald herzlich aufgenommen und intensiv betreut
Flüchtlinge brauchen Unterstützung: Mit Waffelbacken und Fußball fängt Integration im Westerwald gut an
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Westerwaldkreis. Mit dem Leben davongekommen zu sein und hoffentlich auch die Liebsten in Sicherheit zu wissen, ist natürlich das Wichtigste für die Menschen, die aus der Ukraine fliehen konnten. Doch wenn sie in einem fremden Land, dessen Sprache sie zumeist nicht sprechen, ankommen, brauchen sie Unterstützung.

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Kerstin Hutya, Gemeindeassistentin in der Pfarrei St. Anna Herschbach, leistet diese Unterstützung für drei Flüchtlingsfamilien. Unterkünfte hatte sie schnell gefunden, unter anderem bei Menschen, die in der Kirche engagiert sind. Doch das „Drumherum“, Formalitäten, Arztbesuche, Einkäufe, „das ist ein Vollzeitjob“, sagt Hutya. Das gilt zumindest für die ersten Wochen nach der Ankunft von Flüchtlingen aus der Ukraine in der Pfarrei in der Verbandsgemeinde Selters.

Dabei werden viele Alltagsfragen direkt mit den „Herbergseltern“ geklärt. Ein pensioniertes Ehepaar in Maroth etwa hat in seiner Dachgeschosswohnung eine sechsköpfige Familie aufgenommen, die im Auto die Flucht angetreten hatte. „Wir sind sozusagen beruflich vorbelastet“, sagt die Hausherrin. Sowohl sie als auch ihr Mann waren im Rheinland in der Jugend-, Familien- und Sozialhilfe tätig, hatten mit verstörten Jugendlichen und Familien in schwierigen Situationen zu tun. Seit 20 Jahren leben sie in Maroth, gehen beide auf die 80 zu.

Ihre Kenntnisse und Erfahrungen helfen den Rentnern nicht nur, sich in die Geflüchteten hineinzudenken. Sie waren für das Ehepaar auch Grundlage, ganz klar zu formulieren, inwieweit sie helfen wollen und können – und wo ihre Grenzen sind. „Wir haben mehr als ein Vierteljahrhundert Familien und Kinder begleitet, egal ob es Krankheitsfälle oder soziale Probleme gab – jetzt sind wir im Ruhestand und wollen nicht mehr 24 Stunden täglich belastet werden“, sagt die resolute Rentnerin: „Wir wollen unser Leben weiterleben.“

Drei Erwachsene und drei Kinder sind in der Dachgeschosswohnung untergekommen, „da waren wir zuerst schon ein wenig erschrocken“, gibt die Hausherrin zu, hatten sie doch mit zwei, drei, höchstens vier Personen gerechnet. Doch ganz pragmatisch nahmen sie alle sechs auf, wollten die Familienmitglieder nicht auseinanderreißen. Die Ukrainer können in der voll ausgestatteten früheren Ferienwohnung, in der die Rentner heute Gäste übernachten lassen, ganz selbstständig wohnen.

„Ich möchte erreichen, dass sie so bald wie möglich ihre 
Eigenständigkeit wiederfinden.“

Gemeindeassistentin Kerstin Hutya kümmert sich um mehrere Flüchtlingsfamilien.

In der Nachbarschaft sind zwei weitere Verwandte der ukrainischen Familie untergekommen, die sie gelegentlich besuchen. Gemeindeassistentin Kerstin Hutya pendelt zwischen ihrer eigenen fünfköpfigen Familie, dem Pfarrbüro in Herschbach, den Orten, in denen Flüchtlinge untergekommen sind, Lebensmittel- und Drogeriemärkten, Spendengebern, Ärzten und Ämtern.

Ob es die Ausstattung mit Kleidung, Hygieneartikeln und Lebensmitteln ist, ob Medikamente benötigt werden oder die Kinder vor dem Schulbesuch gegen Masern geimpft werden müssen: All dies sind Aufgaben, die Hutya übernimmt. Bis die Formalitäten erledigt sind, die Geflüchteten ordnungsgemäß gemeldet sind und dann auch Anspruch auf staatliche Leistungen haben, sorgt Hutya aus kirchlichen Mitteln für ihr Wohlergehen.

Auch die Pensionäre in Maroth sind weit über das gewährte Obdach hinaus bereit, in Alltagsfragen zu helfen und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. So erklären sie geduldig, wie es im Westerwald mit der Abfalltrennung funktioniert, nehmen Spenden für die Hausgäste entgegen, verwöhnen die Kinder mit Keksen oder bringen mal frischgebackene Waffeln nach oben. Sie freuen sich, wenn die Familie draußen auf dem Feldweg vorbeispaziert, wenn der neunjährige Sohn mit dem Fußball auf den Marother Bolzplatz läuft, sie hoffen, dass das ebenfalls neunjährige Mädchen bald mal in der Nachbarschaft reiten gehen kann.

Es stimmt die Rentner froh wahrzunehmen, dass die Angst und Anspannung von den Ukrainern, den Kindern und den Erwachsenen, abfällt, je länger sie in Maroth und in Sicherheit sind. Und sie sind sicher, dass es der Familie guttut, sich in der Wohnung zurückziehen zu können. Hutya erzählt, wie der Familienvater ihr am zweiten Tag sagte, dass er in der Nacht zum ersten Mal, seit sie sich auf die Flucht gemacht hatten, wieder schlafen konnte. „Es wird viel geweint, gerade von den Männern“, sagt sie.

Und das Ehepaar ist begeistert, wie interessiert gerade die beiden Mütter daran sind, schnell ein wenig Deutsch zu lernen. „Bei der Ankunft hatten wir noch einen Dolmetscher mit hier“, berichtet Kerstin Hutya, doch seither läuft die Verständigung über den Google-Übersetzer auf dem Smartphone der ukrainischen Mutter. „Das ist zwar ein bisschen umständlich, weil man alles zweimal hören muss, aber sie wiederholt viele Wörter, sie will verstehen und mit uns sprechen“, sagt die Rentnerin. Sie scheue sich nicht zu fragen, und habe immer ihr Smartphone zur Hand. Auch Hutya erwähnt die „hohe Motivation und Eigeninitiative, Deutsch zu lernen“.

Gezielt hat sie nach sprachneutralen Spielen für die Familien gesucht, „Memory“ oder Puzzles, damit die Kinder eine Beschäftigung haben. „Momentan suchen wir nach weiteren Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und sozialen Integration, auch um das Deutschlernen noch etwas voranzubringen“, sagt Kerstin Hutya. Die nächstgelegene Grundschule ist in Marienrachdorf – noch kümmert sich die Gemeindeassistentin um die Unterbringung der Kinder und den Transport zur Schule.

Ob es mit einer dauerhaften Aufnahme in die Klassen und vielleicht auch mit einem Intensiv-Deutschkurs klappt, muss die Verbandsgemeinde klären (siehe Kasten). Hutya „übt“ auch mit den Familien, allein Besorgungen zu machen, indem sie telefonisch erreichbar und in der Nähe ist, falls es Probleme geben sollte. „Ich möchte erreichen, dass sie sobald wie möglich ihre Eigenständigkeit wiederfinden, natürlich mit finanzieller Unterstützung durch die Pfarrei“, betont Hutya.

Der neunjährige Sohn der ukrainischen Familie aus Maroth jedenfalls durfte schon erstmals im Verein in Marienrachdorf mit Fußball spielen, die Mutter hat mit ihrer „Herbergsmutter“ zum ersten Mal selbst Waffeln gebacken. Die Mühen tragen Früchte, die Integration hat begonnen.

Erste Kinder sind bereits in Kitas aufgenommen

In der Verbandsgemeinde Selters sind über private Initiativen inzwischen mehr als 60 ukrainische Flüchtlinge angekommen, von denen die Verwaltung weiß. „Uns liegen derzeit etwa 30 Angebote für Unterkünfte vor, in denen rund 90 Personen unterkommen können“, berichtet Bürgermeister Klaus Müller. Abteilungsleiter Marko Zeuner und seine Mitarbeiter würden die Räumlichkeiten gern begutachten, doch dafür wird die Zeit kaum reichen. Wie die Aufnahme in Schulen und Kindergärten genau funktionieren kann, muss noch geklärt werden. Erste Flüchtlingskinder sind unterdessen bereits in Kitas aufgenommen worden. Ob Klassenmesszahlen und Betreuungsschlüssel flexibler gestaltet werden, entscheidet die Politik. worden

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