Kinder und Jugendliche bei einer Schneeballschlacht in den 1930er Jahren, Dampflokomotiven, die viele Güterwaggons ziehen, Feuerwehrleute mit einer Handpumpe bei ihrem ersten Einsatz im Jahre 1918, Männer auf einem nahezu antik anmutenden Mähdrescher, ein Ochsengespann mit Bäuerin und Bauer oder eine Postkarte, die Hachenburg im Jahre 1899 zeigt, das sind nur sechs der vielen historischen Fotos, die Helmut Wüst aus Dernbach auf seinem Tablett zeigt. Sie sind von teilweise bestechender Qualität, aber auch von ebenso bestechender Aussagekraft, denn bei der Betrachtung fühlt man sich direkt hineingezogen in Zeiten, die lange zurückliegen.
„Ich habe schon immer sehr gerne fotografiert, das ist mein Hobby“, sagt der 76-jährige Ruheständler, der einstmals mit einer Handelsagentur selbständig war. Das Fotografieren mag dazu beigetragen haben, dass er seine Liebe zu alten Dokumenten entdeckte, jedenfalls gründete er vor vier Jahren die Facebook-Gruppe „Der historische Westerwald“. „Anfangs waren es nur wenige, aber vor etwa einem Jahr nahm die Sache dann richtig Fahrt auf“, freut sich Wüst und zeigt am Tablett die derzeitige Mitgliederzahl: 13.582 Mitglieder zeigt der Zähler an und nahezu stündlich werden es mehr. Privatpersonen, Gruppen und Heimatvereine tragen mit Fotos und Dokumenten zum Erfolg bei.

Helmut Wüst als alleiniger Administrator der Gruppe achtet genau darauf, wer hier posten darf, denn die Seite soll nicht als politische Plattform missbraucht werden. „Wenn ich eine Anfrage habe, schaue ich mir genau an, wer hier mitmachen will und wenn ich Verbindungen zur AfD entdecke, verweigere ich den Zugang“, sagt er. Ihm geht es ausschließlich darum, das Historische zu Bewahren und wirklich interessierten Menschen zugänglich zu machen. Dass dies dennoch dazu führen kann, dass nicht alle bereitgestellten Fotos später veröffentlicht werden, erklärt er damit, dass auch Facebook bestimmte Inhalte blockiert. So sei beispielsweise ein Foto aus den Zeiten des Nationalsozialismus, auf dem eine Hakenkreuzflagge zu sehen war, durch Facebook gesperrt worden. „Das war auch historisch und gehört zur Vergangenheit unserer Heimat“, sagt Wüst.
Dennoch zeichnet die Sammlung ein sehr anschauliches und mitunter tiefes Bild der Westerwälder Historie und nicht nur Gebäude, Menschen und Landschaften zeugen von einer bewegten Vergangenheit, sondern auch Dokumente wie handgeschriebene Notenblätter, Schulzeugnisse mit Schmuckrand oder alte Rechnungsbücher. Auch dies zeigt, wie lebendig der Westerwald war, und so bildet die Seite viele Gesellschaftsschichten und Bereiche ab. „Früher waren die Menschen hier teilweise bitterarm, viele waren Bauern, von denen sich nur die Bessergestellten ein Ochsengespann leisten konnten; die meisten spannten vor ihre Fuhrwerke Kühe“, gibt Wüst eine Erklärung zu einem der Fotos. Dokumentation, also das Bewahren, ist ihm nicht nur eine Herzensangelegenheit, sondern weitaus mehr.

So führt der Blick in die Vergangenheit auch in die eigene Familiengeschichte und besonders in die von seiner Frau Rosel. Viele Fotos im Haus zeugen von einer bewegten Familiengeschichte: „Das war meine Schwester, sie ist leider in jungen Jahren gestorben“, sagt Rosel Wüst und zeigt auf eine Aufnahme vor einer Wand im Esszimmer, an der zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos ihre Ahnengeschichte und die ihres Mannes dokumentieren. Auch hier zeigt sich das Engagement von Helmut Wüst: „Meine Frau stammt aus Helferskirchen und als wir einmal bei ihren Verwandten zu Besuch waren, ist mir eine Familienchronik in die Hände gefallen, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht.“ Wüst zögerte damals nicht lange, sondern fotografierte viele Seiten aus dem Buch, in dem unter anderem auch alte Rezepte und Hausmittel (wie etwa gegen die Krätze) gesammelt und Geburts- und Sterbedaten von Familienmitgliedern bis ins Detail niedergeschrieben waren. Ein Glück, denn die Chronik selbst ging später verloren, ein Verlust, den der Hobbyhistoriker, der gemeinsam mit zwei weiteren Mitstreitern auch das Dernbacher Archiv betreut, bedauert. “Da ist leider nichts mehr zu machen„, bedauert Wüst, der in seinem Arbeitszimmer Tausende von Fotos und sogar alten Glasnegativen lagert.
Erst kürzlich wurde ihm eine Sammlung von alten Porträts auf Glasnegativen aus einem Flohmarktfund überlassen: “Diese Fotos hat wohl der ehemalige Schuster Krätz hier aus Dernbach gemacht, wer allerdings darauf zu sehen ist, das können wir nicht mehr recherchieren„, sagt Rosel Wüst, die ihrem Mann dabei hilft, Personen zu identifizieren. Mit beachtlichem Erfolg, denn beispielsweise bei dem Kalender „Dernbach 2025, 800 + 5“, der als Fotodokument eine wertvolle Bereicherung für das 800-Jubiläum des Ortes ist (das in diesem Jahr aufgrund Corona im Jahre 2020 „nachgefeiert“ wird), identifizierte sie 19 Schülerinnen aus der Zeit um 1960, eine akribische Recherche mit dem Ergebnis, dass sie eine der beiden noch lebenden Damen sogar persönlich besuchte.
13.500 Mitglieder zählt die Facebook-Gruppe
So geht das Engagement von Helmut Wüst und seiner Frau über die eigentliche Facebook-Seite hinaus, wenngleich diese natürlich das Lieblingsprojekt von Ersterem ist. Denn es sind nicht nur Lokomotiven, Mähdrescher, Ochsengespanne oder Kinder im Schnee, die eine bewegte Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes auferstehen lassen, sondern es ist eine lebendige Gemeinschaft aus mehr als 13500 Mitgliedern, (von denen einige sogar in den USA wohnen sowie in Österreich, Benin und den Niederlanden) die mit ihren Fotos, Erklärungen und Kommentaren dazu beitragen, dass der Westerwald als lebens- und liebenswerte Region in Vergangenheit und Gegenwart weit über die Grenzen hinaus erstrahlt.
Wer Interesse an der Seite „Der historische Westerwald“ hat und/oder dort Mitglied werden möchte, kann diese auf Facebook aufrufen und auf den Button „Beitreten“ klicken. Über eine Annahme des Aufnahmegesuchs entscheidet der Administrator Helmut Wüst.