Großformatige Hochglanzfotografien zeigen Schauspielerinnen wie Morgane Ferru, Künstlerinnen wie Marlen Seubert aus Bad Marienberg, Influencer wie Jin, aber auch die Naturfriseurin Birgit Kaczmarek aus Winningen und ganz normale Menschen aus verschiedenen Ländern finden Raum. „Ich wollte neben der kulturellen Vielfalt auch alle Altersklassen zeigen“, berichtet der Autor. Was sie verbindet: Keiner von ihnen hat ein Tattoo oder ein Piercing, noch nicht einmal ein Ohrloch, keiner ist schönheitsoperiert oder gebotoxt.
Es sei nicht einfach gewesen, potenzielle Teilnehmer für sein Projekt zu finden, berichtet Böckling. Doch nicht, weil kein Interesse bestand. Inzwischen seien mehr Menschen gepierct, tätowiert oder hätten eine Schönheitsoperation machen lassen als es Menschen ohne all das gäbe, sagt er.
Und doch sind sie alle schön. Natürlich schön, sagt Dominik Böckling, wobei ihm wichtig ist, dass sein Buch keinerlei Wertung abgibt: „Mir ging es darum, neutral eine andere Perspektive aufzuzeigen.“ Denn Bücher, Artikel und Hörfunksendungen, die sich mit den Gründen beschäftigen, warum Menschen ihren Körper dauerhaft schmücken, gebe es viele, weiß der Autor. Doch aus welchem Anlass jemand diese rein optischen Eingriffe, die ein Leben lang bleiben, gerade nicht machen lässt, hatte offensichtlich noch niemand untersucht.
Bei seinen Recherchen stieß Böckling auf einige Ambivalenzen. So gebe es Religionsgemeinschaften, die auf alles, was unter die Haut geht, verzichten „Andererseits lassen sich koptische Christen aus Gottgläubigkeit ein Kreuz auf die Hand tätowieren“, schildert er. Eine Kontroverse sieht er auch bei Menschen, die einerseits vegan leben und sich andererseits tätowieren lassen, also auf diesem Weg unkalkulierbare Giftstoffe in den Körper einführen. Wissenschaftlich interessiert und gleichzeitig sehr niedrigschwellig setzt sich der promovierte Geograf mit dem Thema auseinander.
Einen dieser Gegensätze greift auch Jin auf. Er stammt aus Südkorea und ist mit seinen damals 17 Jahren der jüngste Teilnehmer des Projekts. Der Influencer weiß, wie indifferent sich Menschen zu dem Thema verhalten, denn Südkorea ist weltweit das Land mit den meisten Schönheits-OPs. Dort seien die Eingriffe einerseits verpönt, andererseits würde sogar an Bushaltestellen Werbung dafür gemacht, weiß Dominik Böckling. Die älteste Teilnehmerin ist mit der 90-jährigen Wanda die Großmutter einer Freundin, die ebenfalls im Buch auftaucht. Sie ist die einzige, die der Autor vor Beginn seiner Recherchen kannte.
Die bekannteste der Naturalistinnen im Buch ist Eleonore Weisgerber. Die Schauspielerin, die vielen noch aus „Praxis Bülowbogen“ ein Begriff ist, war es auch, die Dominik Böckling zuerst angefragt hatte. Als sie sofort begeistert zusagte, wusste er, dass seine Buch-Idee trug. Weisgerber schreibt in ihrem Gastbeitrag: „[…] der Begriff ‚Natürliches Äußeres‘ schließt für mich mit ein, dass an einem Körper keine optischen Veränderungen vorgenommen werden, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.“
Jede Protagonistin, jeder Protagonist bekommt neben den persönlichen Bildern Raum, in dem sie oder er die eigene Haltung zu einem ungelochten und unbemalten Körper darlegt. Die Gründe dafür sind ganz unterschiedlich. Überraschend für Böckling war, dass sich einige seiner Ansprechpartnerinnen nicht piercen lassen, weil damit Akupunkturpunkte verletzt werden können. Das sei schon beim Stechen von Ohrlöchern der Fall, weiß der Ebernhahner jetzt. In der Kultur des Nigerianers Idris ist die langlebige Form von Körperschmuck ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit. Geradezu gelangweilt von dem Thema Tattoos ist Schauspielerin Ute Maria Lerner, die in Müschenbach lebt: „Ich finde, es ist eine persönliche Freiheit, nicht jeden Trend mitmachen zu müssen“, sagt sie.
Weitere Antworten auf all die, wie er immer wieder sagt, spannenden Fragen, die sich für ihn mit dem Thema aufgetan haben, findet Böckling mithilfe von Wissenschaftlern. Die geben zum Teil in Gastbeiträgen und zum Teil in Interviews Einblicke in ihre Spezialbereiche. Da ist die Ethnologin Anette Rei, die einen Vergleich der Körperkunst zwischen den Kulturen zieht. Da ist der Dermatologe Christoph Liebich, der unter anderem erklärt, dass die Farbe bei der Laserentfernung eines Tattoos in Tausend Einzelteile zerspringt und so das Lymphsystem nach dem Stechen an sich ein zweites Mal massiv bedrängt. Oder dass vor nicht allzu langer Zeit noch Autolacke zum Tätowieren verwendet wurden. Und da ist Böckling selbst, der in seiner Einleitung und seinem Nachwort die Quintessenzen einer vierjährigen Reise zeichnet.
So lange hat es nämlich gedauert, das Buch umzusetzen. Begleitet wurde er dabei von den beiden Fotografinnen Alicja und Joanna Sionkowski aus Koblenz. „Mir war vor allem wichtig, dass man die echte Person sieht, sie so authentisch sieht, wie sie ist“, erklärt Joanna Sionkowski den Hintergrund zu den schönen Fotografien, die mit ihrem meist sanften Licht eine angenehme Ruhe ausstrahlen.
Die Idee zu dem Buch hatte Dominik Böckling schon 2017, nachdem ihn Freunde gefragt hatten, warum er denn nicht tätowiert sei. Doch schon während seines Studiums hatte sich der promovierte Geograf mit dem Soziologiebuch „Sich schön machen“ auseinandergesetzt und daraus den Schluss gezogen: „Sich für sich schön machen ist eine Illusion. Man macht sich immer für andere schön.“ Während der Recherche zu seinem eigenen Buch hat der Ebernhahner unzählige weitere Bücher und Artikel zum Thema gelesen. Dabei entdeckte der Autor auch die Bewegung „Être Blank“ (auf Deutsch: Sei leer) aus Frankreich: Einige Models aus der Pariser Haute-Couture-Szene verzichten ganz bewusst auf Piercings und Tattoos.
Dass Tätowierungen vor ein paar Jahrzehnten den Ruf hatten, nur Seemännern und Häftlingen vorbehalten zu sein, sei ein falsches Bild, erklärt Böckling: Schon Sissi, die Kaiserin sei tätowiert gewesen, zu deren Zeit ein Privileg des Adels.
Der Text-Bildband „Ungestochen schön“ ist im Kid Verlag erschienen. Er zeigt auf 196 Hochglanzseiten eine Mischung aus Fotografien, persönlichen Interviews und wissenschaftlichen Beiträgen. Das Buch kostet 29,80 Euro und ist im Buchhandel erhältlich.
Studie der Uni Leipzig zu Körperkunst liefert überraschende Fakten
Eine Studie der Uni Leipzig zeigte 2017, dass jeder fünfte Deutsche tätowiert ist – Tendenz steigend, erklärt Dominik Böckling eine wissenschaftliche Grundlage für sein Buch „Ungestochen schön“. Unter den 25- bis 34-jährigen Frauen waren die Tätowierten sogar schon fast in der Mehrzahl. Überraschend sei es für ihn gewesen, dass die meisten Menschen, die sich dauerhafte Farbe unter die Haut spritzen lassen, Frauen sind. Das hätte er anders eingeschätzt, sagt der promovierte Geoograf und Soziologe und überlegt: „Vielleicht, weil Tattoos bei Männern oft großflächiger sind.“
In der Altersgruppe der 14- bis 34-Jährigen waren nur 14 Prozent der Männer gepierct, der Anteil bei den Frauen betrug dagegen rund ein Drittel – wobei Ohrlöcher hier außen vor blieben. Würde Ohrringe dazugezählt, dürfte der Anteil an Frauen, deren Haut durch Körperschmuck noch nicht verändert wurde, lediglich im einstelligen Prozentbereich liegen, glaubt der Autor.
Hinzu kämen weitere ästhetische Eingriffe, die sprichwörtlich unter die Haut gehen, wie zum Beispiel Permanent-Make-Up und Schönheits-OPs, die ebenfalls immer beliebter würden, erklärt Böckling: So gab es 2019 allein in Deutschland mehr als 83 000 operative, medizinisch nicht notwendige Eingriffe. maj