Bewegende Forschungsreise
Auf den Spuren von Westerwälder Opfern in Auschwitz
Das Bild zeigt den bekannten Torbau im Vernichtungslager Auschwitz.
Markus Müller/Nister

Die Eindrücke, die man bei einem persönlichen Besuch im Konzentrationslager Auschwitz erhält, haben eine ganz andere Dimension als Recherchen, die ausschließlich in Büchern und Schriften stattfinden. Unser Autor berichtet von einer bewegenden Reise.

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Am 14. Dezember 1964, fast ein Jahr nach Beginn des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt/Main, traf das deutsche Schwurgericht zu einem ersten Ortstermin im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager ein, was angesichts des Kalten Krieges als durchaus spektakulär empfunden wurde. Das Gericht prüfte Zeugenaussagen auf Richtigkeit, fertigte Fotos an, nahm Vermessungen vor. Und genau diese Schritte der Hinterfragung wurden bei einer Forschungsreise Ende April nach Polen auch von mir angewandt.

Mein Besuch im Stammlager Auschwitz (mit dem bekannten Schriftzug „Arbeit macht frei“) und im Vernichtungslager Birkenau folgte in erster Linie nämlich dem Anliegen, bisherige Forschungshypothesen kritisch zu überprüfen, die letztlich alle anhand der Quellen und Literatur aus der Ferne erfolgt waren. In den beiden Hauptkomplexen des größten und bekanntesten Konzentrationslagers (KL) begab ich mich auf Spurensuche zu drei Westerwäldern: den Zeugen Jehovas Louis Pfeifer aus Marienberg (1895-1945) und Selma Klimaschewski aus Zinhain (1910-1984) sowie dem als „asozial“ verunglimpften August Schäfer III aus Nister (1893-1959). Wo waren ihre genauen Leidensorte, und was haben sie vom „Unfassbaren“ als Zeugen mitbekommen?

Der Historiker und Lehrer Markus Müller aus Nister (rechts) konnte sich bei seinem Besuch in Auschwitz mit dem dortigen Archivdirektor Wojciech Płosa austauschen.
Markus Müller/Nister

Nach meiner Anreise mit dem Zug aus Krakau holte mich Archivdirektor Wojciech Płosa am modernen Besucherzentrum des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau ab und führte mich zunächst durch dichte Touristenströme und schließlich über die ursprünglichen Schotterwege durch Stacheldrahtumzäunungen zum Archiv im ehemaligen Block 24, das in der Regel nur von Historikern aufgesucht wird. Der seit Jahren bestehende regelmäßige Kontakt konnte endlich durch eine persönliche Begegnung und ein längeres Gespräch erweitert werden.

Gerne nahm der polnische Historiker, der seit 1997 im Archiv tätig ist und es seit 2008 leitet, zwei Bände des Jahrbuchs „Wäller Heimat“ (unter anderem mit dem Schwerpunktthema 2023 „Wäller Verfolgung – Wäller Zuflucht“) entgegen, die für die Forschungsstelle wichtige Erkenntnisse zu Häftlingen in Auschwitz liefern. Nur circa zehn Prozent der Akten des KL sind heute noch vorhanden, weil die SS kurz vor der Befreiung Berge von Dokumenten vernichtet hat.

Diese Latrinenbaracke befand sich in direkter Nachbarschaft zu der Baracke, in der August Schäfer (Nister) inhaftiert war.
Markus Müller/Nister

Płosa würdigte die flächendeckende Erschließung von NS-Verfolgten in allen 192 Gemeinden des Westerwaldkreises als besonders arbeitsintensives Forschungsergebnis. Er interessierte sich für die kreative Gedenkarbeit, die Schülerinnen und Schüler am Mons-Tabor-Gymnasium Montabaur mit der Gestaltung von Gedenktafeln und Kleindenkmälern geleistet haben und die zu beschlossenen oder bereits realisierten Erinnerungsorten nicht nur im Westerwald geführt hat und noch führen wird.

Obwohl für die „Bibelforscherin“ Selma Klimaschewski die Quellenlage aufgrund ihrer 1971 festgehaltenen Erinnerungen eigentlich herausragend ausfällt, bereitet die Rekonstruktion ihrer genauen Haftorte doch Probleme. Schon im März 1942 kam sie mit der niedrigen Häftlingsnummer 297 im ersten Frauentransport von Ravensbrück nach Auschwitz als ihr viertes KL, weil SS-Oberaufseherin Johanna Langefeld mit ihrer Arbeit im Haushalt und der Betreuung ihres Sohnes zufrieden war und sie daher mitnahm.

„Erst durch die Inaugenscheinnahme vor Ort wird dem Beobachter klar, dass sich schräg gegenüber die ,Schwarze Wand’ befindet, wo vor Pfeifers Ankunft noch massenhaft Erschießungen durchgeführt worden waren, sowie der gefürchtete Todesblock.
Markus Müller

Auf die besondere Beziehung zwischen Täter und Opfer wurde die polnische Forschungsstelle zu den Zeugen Jehovas um die Historikerin Teresa Wontor-Cichy erst durch jene Nachforschungen aufmerksam. Wojciech Płosa führte mich circa 500 Meter außerhalb des Lagers zu einem unscheinbaren Wohnhaus, in dem Klimaschewski „fast Tag und Nacht“ für die berüchtigte letzte Oberaufseherin Maria Mandl schuften musste, die 1948 für ihre Verbrechen gehängt wurde.

Nicht weit vom Archiv entfernt befindet sich Block 20 als Teil des ehemaligen Häftlingskrankenbaus für ansteckende Krankheiten. Der bereits im Dezember 1936 verhaftete Zeuge Jehovas Louis Pfeifer, der unter Zwang die Namen seiner Glaubensgenossen preisgegeben und unfreiwillig eine Verhaftungswelle der Gestapo ausgelöst hatte, war in diesem Backsteinbau wegen einer Tuberkuloseerkrankung zeitweise untergebracht. Erst durch die Inaugenscheinnahme vor Ort wird dem Beobachter klar, dass sich schräg gegenüber die „Schwarze Wand“ befindet, wo vor Pfeifers Ankunft noch massenhaft Erschießungen durchgeführt worden waren, sowie der gefürchtete Todesblock.

„Die Steh-, Dunkel- und Hungerzellen verfehlen auch heute ihre furchtbare Wirkung nicht, wenn man sie bei Führungen sieht. Überhaupt vermitteln Berge von Haaren, Schuhen, Prothesen, Brillen usw. der Opfer einen nachhaltigen Eindruck vom Ausmaß der Morde.“
Markus Müller

In dessen Keller war das Lagergefängnis („Bunker“). Die Steh-, Dunkel- und Hungerzellen verfehlen auch heute ihre furchtbare Wirkung nicht, wenn man sie bei Führungen sieht. Überhaupt vermitteln Berge von Haaren, Schuhen, Prothesen, Brillen usw. der Opfer einen grausamen Eindruck vom Ausmaß der Morde.

Allein der Umstand, dass an diesem Besichtigungstag 16 Kilometer zu Fuß zurückgelegt wurden, mag die riesigen Ausmaße vor allem des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau unterstreichen. Dort waren die für mich besonders interessanten Orte nicht Bestandteil der Führung, sodass ich sie individuell am späten Nachmittag aufsuchte. August Schäfer ist zunächst in der erhaltenen Holzbaracke 7 im Quarantänelager BIIa belegt. Von diesem Block hatte er unmittelbaren Sichtkontakt zur Hauptwache mit dem bekannten Tor, von dessen Flügeln der zweite zur Zeit seiner Ankunft (Dezember 1943) in der Fertigstellung war.

Das Foto gibt den Blick frei auf einen zugänglichen Block im Quarantänelager. Es handelt sich um einen Nachbarblock zu dem, in dem August Schäfer untergebracht war.
Markus Müller/Nister

In der Quarantäne wurden die Häftlinge mit dem Terror des Lagers konfrontiert und der unbedingte Gehorsam mit Gewalt eingebläut. Direkt neben Schäfers Block befand sich eine erhaltene Latrinenbaracke (ein Vorteil!), in der die Häftlinge ohne jede Rücksicht auf Scham und Privatsphäre ihre Notdurft in aller Eile verrichten mussten.

Im Frühjahr 1944 ist der Nisterer dann in Baracke 18 des Krankbau-Lagers für Männer BIIf belegt. Nur wenige Meter entfernt lag das eine Woche vor der Befreiung von der SS gesprengte Krematorium III mit der unterirdischen Gaskammer. Um Schäfers Ankunftszeitpunkt legte man einen Grünstreifen aus Bäumen und Sträuchern an, um die Einsichtnahme zu verhindern. Der Leiter des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes Oswald Pohl ordnete im Juni 1944 außerdem einen weiteren Sichtschutz aus Weidenruten, Ästen und Matten an. Schäfer muss also nicht nur Rauch und emporschlagende Flammen aus dem Schornstein gesehen sowie den unerträglichen Geruch wahrgenommen haben, er dürfte noch weitgehend ungehinderte Blicke auf die Mordstätte gehabt haben, als der Höhepunkt der Vernichtungsaktion 1944 begann.

Schräg gegenüber von dem Block, in dem Louis Pfeifer (Bad Marienberg) zeitweilig untergebracht war, befand sich die sogenannte Schwarze Wand, an der Hinrichtungen stattfanden.
Markus Müller/Nister

Orientiert man einen Auschwitz-Besuch an konkreten Stationen vorab vermittelter Opferbiografien, können zum Beispiel Jugendlichen viel nachhaltigere Eindrücke vermittelt werden als mit nackten Zahlen und Fakten. Alle drei Westerwälder haben höchst unterschiedlich intensive Einblicke in Terror und Vernichtung in Auschwitz-Birkenau nehmen können. Selma Klimaschewski war durch ihre Zwangsarbeit bei den Oberaufseherinnen Langefeld und Mandl nahe an entscheidenden Stellen der Täterseite. Louis Pfeifer und vor allem August Schäfer dürften durch eigene Beobachtungen erstrangige Zeugen für die Verbrechen gewesen sein.

Wojciech Płosa, mit dem sich das Gespräch zunehmend auf Schäfer verdichtete, hält meine Hypothese, dass der Nisterer nach der Befreiung von einem sowjetischen Vernehmer befragt worden ist, für plausibel. Die mündliche Überlieferung des Sohnes, dass der Vater mit einem russischen Soldaten das Lager verließ, könnte nun auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Vielleicht befinden sich im Sonderarchiv bei Moskau als Bestandteil des Russischen Staatlichen Militärarchivs noch Dokumente, die eines Tages ausgewertet werden können.

Diese Lagerstraße führte an der Baracke von August Schäfer (Nister) vorbei.
Markus Müller/Nister

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