Beiden wurde vorgeworfen, im Juli 2021 auf dem Gelände eines großen Einkaufsmarktes in der Lahnsteiner Brückenstraße über die Umzäunung geklettert zu sein und Lebensmittel entwendet zu haben. „Gemeinschaftlich begangener Hausfriedensbruch“ und Diebstahl lautete die Anklage der Staatsanwaltschaft. „Das Verfahren wurde mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft zum 28. Juli eingestellt“, bestätigt Ludger Griesar, der Leiter des Lahnsteiner Amtsgerichts, auf Nachfrage unserer Zeitung.
Eine überforderte Richterin, eine völlig uninspirierte und uninteressierte Staatsanwältin auf der einen, eine kecke Verteidigerin und zwei überzeugte Aktivisten auf der anderen Seite: Mitte und Ende April bot sich im eher beschaulichen Amtsgericht am Rhein-Lahn-Eck ein wahres Trauerspiel in zwei Akten. Julia und Nils haben sich dem „Containern“ oder „Lebensmittelretten“ verschrieben und wollen sich einfach nicht damit anfreunden, dass an vielen Stellen der Welt Menschen hungern, in großen Industrienationen wie Deutschland aber Tag für Tag Lebensmittel weggeworfen werden. Also „containern“ sie, im Sommer 2021 auch bei einer bekannten Supermarktkette in der Lahnsteiner Brückenstraße.
86-jährige Zeugin hart angegangen
Weil eine ältere Dame in der Nachbarschaft glaubt, Verdächtiges gesehen zu haben, verständigt sie die Polizei. Die Beamten „erwischen“ die jungen Leute in flagranti. Nils und Julia erhalten einen Platzverweis, der Schaden (einige Tomaten und Bananen) scheint aber so gering, dass niemand mit einem gerichtlichen Nachspiel rechnet. Doch Hausfriedensbruch ist ein Antragsdelikt, also eine Straftat, die nur auf Antrag verfolgt wird. Weil ein Abteilungsleiter des Supermarktes aber Strafanzeige erstattet, ermittelt die Justiz.
Was folgt sind zwei chaotische Prozesstage. Nils und Julia, vertreten von einer äußerst pfiffigen Anwältin, lehnen gleich zu Beginn das Angebot der Richterin, das Verfahren gegen eine gemeinnützige Spende einzustellen, ab. In der Folge nimmt die Verteidigung die Zeugen gehörig in die Mangel: Nicht nur die 86-jährige Frau, die den Vorfall gemeldet hatte, muss sich unangenehme Fragen gefallen lassen („Sind Sie Lahnsteins Hilfssheriff?“). Auch ein Polizist rechtfertigt sich für seine Arbeit; die Verteidigung sieht weder Diebstahl noch Hausfriedensbruch als bewiesen an.
Ersteres wird in der Folge dann tatsächlich von der Staatsanwaltschaft wegen Geringfügigkeit fallen gelassen. Vorläufig. Denn der zweite Prozesstag versinkt endgültig im Chaos – inklusive eines Befangenheitsantrags der Verteidigung gegen die Richterin. Im Gerichtssaal bricht in der Zeit Woodstock-Feeling aus. Aktivisten, welche die beiden Angeklagten unterstützen, packen ihre Brotdosen aus, es herrscht Picknickstimmung, von der Straße hallt Musik weiterer protestierender Aktivisten in den Gerichtsaal. Am Ende vertagt eine hilflos wirkende Richterin den Prozess erneut.
„Wir sind sehr froh, dass das Gericht so entschieden hat.“
Lebensmittelretter Nils
Vier Monate später ist das Verfahren nun still und heimlich eingestellt worden. „Wir sind sehr froh, dass das Gericht so entschieden hat“, kommentiert Lebensmittelretter Nils auf Nachfrage unserer Zeitung. „Aber natürlich fragen wir uns, warum das nicht schneller ging.“ Für die beiden Koblenzer ist es „extrem fragwürdig, dass Leute, die Lebensmittel wegwerfen, uns vor Gericht zerren, weil wir diese retten wollen“. Darum habe man das Angebot der Richterin ausgeschlagen. „Obwohl wir eigentlich nur Lebensmittel retten und keinen politischen Prozess führen wollten“, sagt Nils. „Aber da es sein musste, haben wir dies auch durchgezogen.“ Beide sind fest davon überzeugt, dass die Gesetze dringend geändert werden müssen. „Weggeschmissene Lebensmittel müssen als herrenlos gelten.“
Beide ärgern sich zudem darüber, dass ein milliardenschwerer Supermarktskonzern „sich ständig Nachhaltigkeit auf die Fahnen schreibt, gleichzeitig aber Tag für Tag Tonnen von Lebensmitteln wegwirft“. Allein in der Lahnsteiner Filiale seien dies mehrere Einkaufswagen am Tag. Über diese Themen Nachhaltigkeit und Lebensmittelverschwendung hätte man auch gern mit der Geschäftsführung gesprochen, betonen Julia und Nils. Schon weit vor dem Prozess. „Aber leider wurden wir mehrfach abgewiesen.“