Lokale Vielfalt wiederentdeckt
Süß, sauer, einzigartig: Die Mittelrheinkirsche
Unzählige Kirschbäume tummeln sich im Sortengarten über Filsen: Hier hat die Mittelrheinkirsche ein Zuhause gefunden und ist für die Menschen aus nah und fern erlebbar. (Archiv)
Zweckverband/Katja Verhoeven

Die Mittelrheinkirsche begeistert mit ihrer unglaublichen Vielfalt von rund 80 Sorten. Einst ein Star im Obstbau, geriet sie fast in Vergessenheit – doch heute ist sie Symbol für Tradition und kreative Genusskultur weit über regionale Grenzen hinaus.

Von Gelb über leuchtendes Rot bis hin zu einem betörenden Dunkelrot: Die Vielfalt der Kirschen im Mittelrheintal beschränkt sich nicht allein auf die Optik, auch geschmacklich haben die knackig-süßen und sauren Früchtchen richtig viel zu bieten. Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts begann ihr Siegeszug insbesondere in unserer Region, sie gerieten ab den 1970er-Jahren aber durch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel immer mehr in Vergessenheit und drohten gar, ganz von der Bildfläche zu verschwinden, um dann in den vergangenen rund zwei Jahrzehnten wiederentdeckt auf der hiesigen Bühne zu erscheinen und als Mittelrheinkirsche nicht nur auf Streuobstwiesen und privaten Gärten, sondern auch in verschiedenen regionalen Produkten die Hauptrolle zu spielen.

Klima am Mittelrhein gefällt nicht nur Weinreben

Die Kirschen am Mittelrhein haben eine bewegte Geschichte. Das Mittelrheintal, seit rund 2000 Jahren vom Weinbau geprägt, bietet nicht nur für Riesling und mehr sehr gute Bedingungen. „Durch das Weinbauklima fühlen sich auch andere Obstsorten hier sehr wohl“, weiß Nico Melchior, Geschäftsführer der Lokalen Aktionsgruppe (LAG) Welterbe Oberes Mittelrheintal. Und so gab es in den vergangenen Jahrhunderten vereinzelte Kirschgärten im Mittelrheintal. Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Reblaus den hiesigen Winzern schwer zu schaffen machte, sattelten immer mehr Landwirte auf Obstbau um. Zum Jahrhundertwechsel entwickelten sich Schwerpunkte im Kirschenanbau insbesondere in Boppard/Bad Salzig, St. Goarshausen und Lahnstein, ganz besonders aber auch in Osterspai, Filsen und Kamp-Bornhofen.

Vom Aufstieg und Fall der Kirschen im Mittelrheintal

Daraus entwickelte sich ein richtiges Geschäftsmodell mit einem Boom in den 1950er- und 1960er-Jahren, mehr als 370.000 Kirschbäume standen einst im nördlichen Mittelrheintal. „Damals wurden die Sorten, die sich gut anbauen ließen, vermehrt. Daher rührt die große Kirschsortenvielfalt mit rund 80 Süßkirschensorten“, nennt Melchior die Besonderheiten für die Region. Per Schiff, später mit der Bahn wurden sie nach ganz Deutschland und bis nach Holland und England geliefert – bis es in den 1960er-Jahren zu einem Knick kam: Die Gesellschaft wandelte sich, neue Jobs wurden immer attraktiver, dies gepaart mit dem Wunsch nach gleichbleibender Qualität über das ganze Jahr hinweg bei den Kirschen, die vor allem in Südeuropa geboten werden konnte. So wurde die Mittelrheinkirsche immer mehr vom nationalen und internationalen Markt verdrängt und geriet auch dort immer mehr in Vergessenheit.

„Er hat festgestellt, dass es hier viele unterschiedliche, gefährdete Sorten gibt, die nur noch hier vorkommen.“
Nico Melchior

Zum Jahrtausendwechsel spielten die Kirschen vom Mittelrhein mit ihrer ungeheuren Sortenvielfalt, die einst weit über die Region hinaus bekannt war, keine Rolle mehr. Da war es ein glücklicher Zufall, dass Anfang der 2000er-Jahre in Filsen ein Flurbereinigungsverfahren stattfand, um die vielen kleinen Grundstücksparzellen neu zu ordnen. Neben einigen anderen war dabei auch Frank Böwingloh vom Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum involviert, ein wahrer Kirschenkenner. „Er hat festgestellt, dass es hier viele unterschiedliche, gefährdete Sorten gibt, die nur noch hier vorkommen“, erzählt Nico Melchior. Dabei habe sich Filsen als Zentrum der Mittelrheinkirschen herauskristallisiert. Es galt, dieses besondere Erbe zu bewahren und zu pflegen – als Landschaftselement, aber auch als wertvollen Sortengarten: Heute ist Filsen Teil der Deutschen Genbank Obst.

Vielfalt der Mittelrheinkirsche auf unterschiedliche Weisen erfahren

Doch es geht um so viel mehr als um den Erhalt dieses Erbes: Die Kirschenvielfalt soll vor allem den Menschen zugänglich und erfahrbar gemacht werden. Der Kirschlehrpfad in Filsen lädt nicht nur im Rahmen des Kirschblütenpicknicks im Frühjahr dazu ein, zwischen den mannigfaltigen Kirschbäumen zu wandeln und die vielen Sorten kennenzulernen und – wer zur rechten Zeit unterwegs ist – auch direkt zu probieren, beispielsweise auch bei geführten Wanderungen. Es gibt alljährlich im Herbst einen Kirschbaumverkauf regionaler Sorten, organisiert über den Zweckverband. Und die Marke Mittelrheinkirsche wurde ins Leben gerufen, unter deren Namen Produkte, in denen die Mittelrheinkirsche verarbeitet wird, firmieren. Von der klassischen Konfitüre und Kirschnektar über Kirschsenf, Ziegensalami und Kirsch-Leberpaté bis hin zu Alkoholischem wie Kirschbier, -Dessertwein, Likör und Brand: Die Palette ist vielseitig und ist auch noch erweiterbar, erzählt Nico Melchior.

„Die Pflege des Sortengartens ist aufwendig, aber eine Gruppe von Akteuren ist gut eingespielt.“
Nico Melchior

Zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass die Pflege und der Erhalt dieses besonderen Erbes Arbeit kosten. „Die Pflege des Sortengartens ist aufwendig, aber eine Gruppe von Akteuren ist gut eingespielt“, berichtet Melchior. Gleichzeitig wird stets nach neuen Kirschproduzenten gesucht, die sich für das Thema begeistern und Verantwortung übernehmen wollen, wirbt er für das Projekt. Mit verschiedenen Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche wird für die Vielfalt der Mittelrheinkirsche sensibilisiert, beispielsweise mit einer Rallye oder anderen Projekten zur Wissensvermittlung im Sortengarten für Grundschüler und Schüler der weiterführenden Schulen.

Im Internet unter www.welterbe-mittelrheintal.de/mittelrhein-kirschen sind viele Informationen zusammengefasst: Von Produkten über die Geschichte, Kirschbäume sowie einem Sortenfinder bis zu zu aktuellen Veranstaltungen rund um die Mittelrheinkirsche gibt es dort einiges zu entdecken.

Top-News aus der Region