Verein "Gemeinsam zusammen" mit Social-Design-Award ausgezeichnet - Worum es den Siegerinnen bei ihrem Anliegen geht
Stille Stunde in Diez und Limburg ausgezeichnet: Verein „Gemeinsam zusammen“ erhält Social-Design-Award
Katrin Würtemberger/DER SPIEGEL

Der örtliche Verein „Gemeinsam zusammen“ wurde vom „Spiegel“ mit dem ersten Platz des Social-Design-Awards ausgezeichnet, wobei insgesamt 24 Prozent der Stimmen ihrem aktuellen Projekt „Stille Stunde“ gewidmet wurden. Die Vorsitzende Anne Olschewski und ihr Projektteam zeigen sich begeistert über diese Würdigung in Hamburg.

Aktualisiert am 22. November 2023 19:24 Uhr

Katrin Würtemberger/DER SPIEGEL

Das Projekt begann als Initiative, eine Kampagne zu starten, um Unternehmen dazu zu bewegen, für eine bestimmte Zeit reizarme Umgebungen zu schaffen, erläutert der Verein in seiner Pressemitteilung. Doch schon bald wurde klar, dass hier mehr im Spiel ist als nur eine kurzfristige Aktion. „Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen werden in Bezug auf Inklusion oft vernachlässigt. Das Besondere daran ist, dass dies meist nicht auf Ignoranz zurückzuführen ist, sondern auf eine weitverbreitete Unwissenheit in der Gesellschaft, der Politik und sogar im medizinischen Bereich“, erklärt Olschewski.

Daher startet das Projekt einen deutschlandweiten Appell an jeden Landkreis, die Besonderheiten von Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen anzuerkennen und zu berücksichtigen. Hierfür wurden Listen und Impulse mit sensorischen Barrieren gemeinsam mit Betroffenen entwickelt. „Wir haben uns tatsächlich als Ziel gesetzt, einen gesellschaftlichen Wandel und eine Erweiterung der Definition von Inklusion und Barrieren herbeizuführen“, erklärt Olschewski. So haben Politiker bereits positive Rückmeldungen gegeben und signalisieren, dass sie dieses Anliegen in Ausschüssen und Gremien vorantreiben möchten.

Stigmatisierung Betroffener

„Wir waren entsetzt, als wir verstanden haben, dass die Lebenserwartung von Autisten um circa 16 Jahre reduziert ist und dass dies häufig an den Umständen und nicht an der Behinderung liegt. Daher geht es nicht nur darum, das Licht zu dimmen, sondern den Menschen zu helfen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden“, berichtet Kristina Schmalz vom Verein Gemeinsam zusammen.

Das zentrale Thema des Projekts ist neben der Aufklärung und Sensibilisierung auch die Hervorhebung kaum bekannter Tatsachen. Kaum jemand ist sich bewusst darüber, dass eine Fachkraft für Autismus bei der Lebenshilfe mit ihren Klienten teilweise jahrelang übt, nur um eine einfache Kugel Eis zu bestellen. Kinder werden in der Schule oft als Zappelphilippe bezeichnet, obwohl die kognitive Verarbeitungsmenge ihres Gehirns der eines Hochleistungssportler gleicht.

„Wir haben uns tatsächlich als Ziel gesetzt, einen gesellschaftlichen Wandel und eine Erweiterung der Definition von Inklusion und Barrieren herbeizuführen.“

Anne Olschewski

Oftmals reißen sich Menschen in der Öffentlichkeit zusammen und passen sich an, ein Phänomen, das als Maskierung bezeichnet wird. Allerdings erfordert diese Form der Bewältigung enorm viel Kraft. Die Stigmatisierung der betroffenen Menschen führt zu einer Art Kompensationsmechanismus, welcher wiederum neue Erkrankungen wie Depressionen oder Angstzustände begünstigen kann, erläutert der Verein. Zusätzlich ist es wenig bekannt, dass Diagnosen im Bereich neurodivergenter Erkrankungen oft auf maskuline Stereotype ausgerichtet sind. Frauen erleben nicht selten Fehldiagnosen. Oftmals erhalten sie erst dann die richtige Diagnose, wenn sie bereits am Ende ihrer Kräfte sind.

Vielfältige Barrieren

Wer ist betroffen? Menschen mit ADHS, im Autismusspektrum, aber auch mit MS, Depressionen, Long Covid, Migräne und vielen anderen Beeinträchtigungen sind besonders anfällig. Eine Reizüberflutung kann bis zu einem körperlichen Zusammenbruch führen. Das Projekt identifiziert fünf Schlüsselbereiche für gesellschaftliche Veränderungen und den Abbau von sensorischen Barrieren:

Politik: Politische Instanzen können auf unterschiedlichen Ebenen als Multiplikatoren, als Entscheider vor allem auch bei Anträgen sowie bei tatsächlichen Maßnahmen im öffentlichen Raum Veränderungen bewirken.

Aufklärung: Unternehmen, Behörden und Multiplikatoren sollen sich aktiv für die Beseitigung von Diskriminierung und Ausgrenzung einsetzen. Der Begriff Ableismus wird hier nicht nur auf Behindertenfeindlichkeit beschränkt verstanden, sondern auch als alltägliche Übergriffe, die gut gemeint erscheinen. Öffentliche Institutionen und Plätze müssen künftig auch sensorische Barrieren berücksichtigen.

Schule/Kindergarten: Pädagogen und Lehrkräfte benötigen Unterstützung. Frühzeitige Aufklärung für Verantwortliche, Schüler und Kindergartenkinder ist entscheidend. Sensibilisierung für Vielfalt und Aufklärung sollten von Anfang an eine Rolle spielen.

Wirtschaft: In der Wirtschaft geht es zum einen um Teilhabe und den Handel als Multiplikator für den Abbau sensorischer Barrieren. Die Registrierung bei www.stille-stunde.com und die Beteiligung vieler Geschäfte setzen ein inklusives Zeichen. Eine Sensibilisierung bei Entscheidern sowie die Anpassung der Arbeitsplatzbedingungen können die Zusammenarbeit verbessern.

Gesundheit: Das Gesundheitssystem stellt eine besondere Herausforderung dar, da viele Ärzte und Psychologen nicht ausreichend über Autismus informiert sind. Therapieplätze sind knapp und mit langen Wartelisten verbunden. In einer Krise stoßen psychiatrische Krankenhäuser an ihre Grenzen, da sie gruppenbasiert sind.

Es ist wichtig, diese Themen anzugehen, da viele Betroffene mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert sind. „Die Gesellschaft muss sich bewusst machen, dass diese Menschen wertvoll und gut sind, wie sie sind. Wenn wir dies akzeptieren und ein bisschen weniger bewerten, haben wir schon einen großen Schritt geschafft“, ist Olschewski überzeugt. red

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