34-Jähriger mit Entwicklungsstand eines Neun- bis Zwölfjährigen muss sich wegen mehrerer Delikte verantworten
Schwieriger Urteilsfindung in Diez: 34-Jähriger mit Entwicklungsstand eines Kindes steht vor Gericht
Wie umgehen mit einem Erwachsenen, der zwar schuldfähig ist, aber den mentalen Entwicklungsstand eines Kindes aufweist? Diese Frage stellte sich bei einer Verhandlung vor dem Amtsgericht in Diez.
Johannes Koenig (Archiv)

Wie ist ein Erwachsener zu bestrafen, der über den Entwicklungsstand eines neun- bis zwölfjährigen Kindes verfügt und im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit zahlreiche Straftaten begangen hat? Mit dieser Frage hatte sich jetzt das Amtsgericht Diez auseinanderzusetzen. Angeklagt war ein 34-jähriger Mann, der während seines Aufenthaltes in einer Betreuungseinrichtung zunehmend durch aggressives Verhalten aufgefallen war.

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Nach Problemen bei der Geburt wurden dem nun Angeklagten bereits im Teenageralter Entwicklungsverzögerungen sowie ADHS attestiert. Bis zum sechsten Lebensjahr wuchs er bei der Mutter auf, danach beim Vater, und mit elf Jahren wurde er in einer Pflegefamilie untergebracht, aus der er aber schon bald in eine betreute Einrichtung wechseln musste. Zwar zeigte er ein vor allem verbal auffälliges Verhalten, doch blieb er ansonsten unauffällig, auch als er aus der Jugendeinrichtung vor zwölf Jahren in ein Heim für Erwachsene wechseln musste. Viele Jahre ging er dort regelmäßig einer Arbeit nach und integrierte sich gut.

Warum es dann aber ab etwa 2020/2021 zu einem Bruch in seinem Verhalten kam, versteht bis heute niemand. Waren es die Corona-Erfahrungen, die den jungen Mann aggressiv machten, der Wechsel in der Betreuung vom Vater zur Mutter, ein traumatisches Ereignis bei seinen eigenständigen Ausflügen mit Zugfahrten zu Flohmärkten im Raum Koblenz oder die Tatsache, dass er es mit der Einnahme der ihm verschriebenen Medikamente nicht mehr so genau nahm? Jedenfalls häuften sich seine Ausraster, sodass sich die Einrichtung gezwungen sah, seine Delikte zur Anzeige zu bringen.

„Das entspricht dem IQ eines Kindes im Alter von neun bis zwölf Jahren.“

Ein Gutachter zum IQ des Angeklagten von 58

In der Verhandlung musste er sich nun für insgesamt zehn Vorfälle verantworten, bei denen es zwischen November 2022 und Februar 2024 zu Körperverletzungen, versuchten Körperverletzungen, Beleidigungen oder Bedrohungen gekommen war. Dabei verursachte er Beulen, Kratzwunden und Blutergüsse bei seinen Opfern.

Zwei bis drei Anzeigen pro Woche

Das Gericht nahm sich viel Zeit, ihn und zumindest einige Zeugen anzuhören. So berichtete ein Polizeibeamter, dass es seit etwa zwei bis drei Jahren „Stress mit dem Angeklagten“ gegeben habe. Er habe zwar öfter mal in der Einrichtung beziehungsweise mit deren Bewohnern zu tun, doch habe es in dieser Zeit teilweise zwei bis drei Anzeigen pro Woche ausschließlich wegen dieses Angeklagten gegeben – von Sachbeschädigung über Beleidigung bis zu Körperverletzung sei alles dabei gewesen, meist aber nichts Schwerwiegendes. Überhaupt gebe es meist dann Streit, wenn er etwas wolle und dann nicht bekomme. „Wir versuchen dann immer, Brücken zu bauen, damit er wieder runterkommt.“ Doch das gelinge nicht immer.

„Nach den Vorfällen, die auch bei den Mitbewohnern Kettenreaktionen auslösen, ist er meist völlig aufgelöst.“ Dementsprechend wurde ihm auch das Arbeiten in der Einrichtung untersagt, und seine Integration in Gruppenaktivitäten gestaltete sich zunehmend schwieriger. Wegen der fehlenden Impulskontrolle sei er, so der Pfleger, dann auch häufiger in die Psychiatrie eingewiesen worden, von dort sei er dann relaxt zurückgekommen – möglicherweise habe man in dieser Zeit viele Psychopharmaka an ihm ausprobiert.

Auch andere Möglichkeiten, ihn zu besänftigen, hätten irgendwann nicht mehr funktioniert. Eine Erzieherin und frühere Bezugsbetreuerin ergänzte, dass er weder die Privatsphäre noch das Eigentum anderer respektiere und es deshalb in den vergangenen drei Jahren fast täglich zu Reibereien gekommen sei.

Der Beschuldigte gab an, sich in der Einrichtung nicht wohlzufühlen: „Es gefällt mir da nicht. Alle nerven und ärgern mich.“ „Ich würde gern im Verein Fußball spielen“, wünschte er sich. Ansonsten verfolgte er die Verhandlung sehr aufmerksam und interessiert, lehnte Pausen ab. Zu den Vorwürfen gegen ihn sah er sich eher in der Opferrolle. Er beklagte, zuerst provoziert zu werden, bei seinen Ausrastern grob angefasst und vom Sicherheitspersonal auch schon gefesselt geworden zu sein.

Triumphierend ergänzte er: „Da hat der dann aber auch seinen Job verloren für.“ Der vom Gericht beauftragte Gutachter erklärte, dass dem Angeklagten bereits 2007 eine leichte Intelligenzminderung attestiert worden sei. Tatsächlich wurde bei ihm 2023 in der Psychiatrie ein IQ von 58 nachgewiesen. „Das entspricht dem IQ eines Kindes im Alter von neun bis zwölf Jahren“, so der Diplom-Psychologe. Dies bewirke eine deutliche Verhaltensstörung, hinter der sein ADHS sogar noch zurückstehe.

„Er verfügt über eine reduzierte Impulskontrolle, mangelnde sprachliche Ausdrucksfähigkeit mit Ohnmachtsgefühlen und keine adäquate Steuerungsfähigkeit.“ Dennoch hielt der Gutachter eine dauerhafte Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Einrichtung für nicht erforderlich: „Eine gewisse Hemmschwelle ist noch vorhanden. Er weiß, was er tut und bereut es in der Regel auch schnell. Und es gelingt ihm durchaus, sich auch ohne Eskalation zu beruhigen.“ Weitere vergleichbare Taten seien zwar zu erwarten, eine Eskalation jedoch nicht. Entscheidend sei eine funktionierende Medikation.

Staatsanwalt fordert Freiheitsstraße

Dementsprechend hatte der Vertreter der Staatsanwaltschaft die gegenüber dem Angeklagten erhobenen Vorwürfe als zwar im Zustand verminderter, aber eben doch gegebener Schuldfähigkeit verübt zu bewerten. Insgesamt plädierte er für eine Freiheitsstrafe von einem Jahr. Trotz fehlender Vorstrafen konnte er keine günstige Sozialprognose ausmachen, sodass für ihn auch die Aussetzung der Strafe zur Bewährung nicht infrage kam.

„Ich hoffe, dass dieser Eindruck des Prozesses bleibt und dafür sorgt, dass Sie sich künftig beherrschen.“

Der Richter redete dem Angeklagten ins Gewissen.

Für den Verteidiger war klar: „Eigentlich gehört mein Mandant trotz Schuldfähigkeit nicht in die Strafverfolgung. Er hat Einschränkungen, aus denen heraus er diese Straftaten begangen hat.“ Hier bestehe eine eklatante Gesetzeslücke. Er bat das Gericht entsprechend Paragraf 47 StGB anzuwenden, nach dem kurze Freiheitsstrafen in Ausnahmefällen nicht unabdingbar vollstreckt und durch Geldstrafen ersetzt werden können. Oder aber zumindest doch eine Bewährungsstrafe in den Blick zu nehmen.

Der Richter entschied sich für die letzte Option. Er verurteilte den 34-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, ausgesetzt für drei Jahre zur Bewährung. Eine Geldstrafe hielt er für nicht zielführend, da der Angeklagte kein Geld habe, und auch jeder erzieherische Effekt auf den Beschuldigten fehlen würde. Stattdessen hoffe er, so der Richter, dass die neue gesetzliche Betreuerin im Zusammenwirken mit dem Bewährungshelfer dahin gehend auf den Verurteilten einwirken könnte, eine angemessene Dauertherapie mit Medikamenten zu etablieren und eventuell dafür zu sorgen, dass er in einer Einrichtung untergebracht werde, in der er sich einigermaßen wohlfühlen könne.

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