Damit soll die bislang oft unzureichende Nachsorge für Menschen, die von Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Hirntumor oder entzündlichen Hirnerkrankungen betroffen sind, spürbar verbessert werden. Das gemeinsame Dienstleistungsangebot von Stiftung Scheuern (Nassau) und Diakoniewerk Friedenswarte (Bad Ems) trägt den Namen Particura. Dieser besteht aus den lateinischen Worten für teilnehmen (participare) und Pflege (cura) und weist auf das Ziel der Zusammenarbeit hin: Man will Menschen mit erworbener Hirnschädigung alle erforderlichen Hilfen aus einer Hand anbieten, um diese nicht nur pflegerisch bestmöglich zu versorgen. Die Betroffenen sollen durch individuell angepasste Therapie- und Hilfeangebote in die Lage versetzt werden, ihren Alltag wieder möglichst selbstständig zu meistern. Der Slogan: „Dein Leben. Deine Chance“, bringt es auf den Punkt.
„Wir wollen erreichen, dass das Hilfesystem für Menschen mit erworbener Hirnschädigung Stück für Stück besser wird.“
Bernd Feix, pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern
„Es geht uns um die Menschen“, sagt Bernd Feix, pädagogischer Vorstand der Stiftung Scheuern. „Wir wollen erreichen, dass das Hilfesystem für Menschen mit erworbener Hirnschädigung Stück für Stück besser wird.“ Potenzial dafür gebe es reichlich. Betroffenen fehle nach der ersten medizinischen Versorgung im Krankenhaus meist eine bedarfsgerechte Nachsorge, die das Ziel hat, verloren gegangene Fähigkeiten zu reaktivieren oder zu kompensieren und ein Höchstmaß an Teilhabe zu ermöglichen. Dinge, die für Menschen einen besonderen Stellenwert haben, die durch eine Hirnschädigung aus ihrem gewohnten Berufs- und Privatleben gerissen wurden. Außerdem gleiche die Antragstellung an die Kostenträger oft genug einem undurchdringlichen Dschungel. Particura will Betroffenen und ihren Angehörigen Hilfe und Entlastung bieten.
Weil das Problem der unzureichenden Nachsorge ein grundlegendes ist, wird das innovative Konzept von Particura öffentlich gemacht. Es fasst die Erkenntnisse der anderthalbjährigen Projektphase zusammen und soll Best-Practice-Beispiel sein. „So können sich auch andere Einrichtungen an unseren Erfahrungen und Lösungsansätzen orientieren“, betonen Bernd Feix und Oliver Eggert, Vorstand der Friedenswarte. Wegen des beispielhaften Charakters hat die Diakonie Hessen die Projektphase finanziell gefördert.
Wenn ein Mensch eine Hirnschädigung erleide, seien die Folgen für ihn und sein Umfeld oft extrem herausfordernd. Durch den Schicksalsschlag verlören die Patienten ihre Selbstständigkeit und ihre Identität; ihre Lebensplanung – beruflich wie privat – werde zunichtegemacht. Angehörige und Freunde sähen sich oft nicht nur mit Pflegebedürftigkeit konfrontiert, sondern auch mit einer veränderten Persönlichkeit des Betroffenen. Professionelle Hilfe sei in dieser prekären Situation nicht leicht zu finden.
Neuropsychologische Praxen zum Beispiel seien nicht nur im Rhein-Lahn-Kreis selten und hätten lange Wartezeiten. Die Behandlung sei derzeit auf fünf Jahre beschränkt, obwohl nicht wenige Menschen mit erworbener Hirnschädigung diese für den Rest ihres Lebens benötigten. Zudem fehle es an spezialisierten Einrichtungen für jene, die im häuslichen Umfeld nicht adäquat begleitet werden können. Im klassischen Altenpflegeheim seien Patienten mit erworbener Hirnschädigung meist genauso fehl am Platz wie in Einrichtungen für Menschen, die von Geburt an kognitiv beeinträchtigt sind. Hier wie dort seien Pflege und Betreuung nicht auf diese Personengruppe ausgerichtet.
Mit Particura wollen die Stiftung Scheuern und die Stiftung Diakoniewerk Friedenswarte diesen Menschen nun gemeinsam besser gerecht werden und deren Versorgung optimieren. Durch den vor mehr als 15 Jahren gegründeten Fachbereich Integra für Menschen mit erworbener Hirnschädigung, deren Pflegebedarf gering ist, hat die Stiftung Scheuern viel Know-how, einen reichen Erfahrungsschatz und ein großes Netzwerk von Experten aufgebaut. „Es war für uns spannend, zu sehen, mit wie viel verschiedenen Professionen die Stiftung Scheuern zusammenarbeitet“, sagt Karin Quirmbach von der Friedenswarte, die gemeinsam mit Isabel Hoffmann (Stiftung Scheuern) das Projekt leitet. Die Friedenswarte wiederum ist auf das Thema Pflege spezialisiert und verfügt über entsprechendes Wissen und Fachpersonal.
„Die Bedarfe von Menschen mit erworbener Hirnschädigung sind sehr komplex und vielfältig“, sagt Oliver Eggert von der Friedenswarte. Die Folge ist: „Die Verzahnung von Hilfen und Leistungen ist die wirksamste Herangehensweise“, ergänzt Bernd Feix von der Stiftung Scheuern. Wie dies in der Praxis erreicht werden kann, haben die Stiftung Scheuern und die Friedenswarte in der Projektphase von Particura gemeinsam ausgelotet. Dabei war auch manche Barriere zu überwinden, die der geltenden Sozialgesetzgebung innewohnt.
Gemeinsam sei es gelungen, eine Vielzahl von Beteiligten zusammenzubringen. Das reiche vom Betroffenen und seinen Angehörigen über Neurologen, Psychologen und Therapeuten bis hin zu Fachkräften aus den Bereichen Pädagogik und Pflege. Schon bei der Aufnahme eines Menschen mit erworbener Hirnschädigung durch Particura würden neuropsychologische Experten eingebunden. In einem standardisierten Verfahren würden Fähigkeiten, Kenntnisse und Kompetenzen des Betroffenen ermittelt. Die Erkenntnisse dienten dazu, Betreuung, Therapien und Pflege optimal auf die Person anzupassen. Sie würden aber auch herangezogen, um im weiteren Verlauf die Wirksamkeit der eingeleiteten Maßnahmen beurteilen zu können.
Die Fäden hält dabei ein Case Management in der Hand, das den gesamten Prozess steuert. Das Case Management vermittelt zum Beispiel Probewohnen oder Kurzzeitpflege, damit beide Seiten sich kennenlernen. Das ist derzeit in bestehenden Einrichtungen in Bad Ems, Nassau und Simmern (Westerwald) möglich. Außerdem gibt es ambulante Pflege- und Hilfeangebote für jene, die in ihrem häuslichen Umfeld leben, sowie Angebote für Tagesstrukturen, beispielsweise in Form einer Reha-Gruppe. Auch um Unterstützungsmöglichkeiten für Angehörige kümmert sich das Case Management auf Wunsch.
Nach der Projektphase soll Particura nun Zug um Zug ausgebaut und für Menschen in der Region und darüber hinaus zugänglich werden. Das bestehende Netzwerk soll ausgebaut, Fachkräfte für die spezifischen Anforderungen weiterqualifiziert werden. Zudem sollen neue Wohnangebote entstehen, beispielsweise für junge Menschen mit erworbener Hirnschädigung, für Personen mit demenziellen Veränderungen oder für Menschen, die nicht-invasiv beatmet werden müssen. „Jetzt geht es erst richtig los“, sagen Oliver Eggert und Bernd Feix. red