Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in Münster bestätigte die Entziehung des Triebfahrzeugführerscheins für den Lokführer des Unglückszuges. Dem Mann waren mehrfach Geschwindigkeitsverstöße nachgewiesen worden. Ob dies der Grund für den Unfall vom 30. August in Lahnstein war, ist unklar: Der Lokführer behauptet, 60 Stundenkilometer seien signalisiert gewesen, die Bahn sagt 40.
Es war eine wahre Horrornacht, die Bevölkerung und Politik noch über Monate beschäftigten sollte: Ein Gefahrgutzug des privaten Berliner Bahnunternehmens Laeger & Wöstenhöfer entgleiste auf dem Weg von Rotterdam nach Basel. Jeder der 18 Kesselwagen hatte Diesel geladen. Sieben kippten um, zwei weitere entgleisten und blieben stehen. Laut DB Netz liefen rund 100.000 Liter Diesel ins Erdreich, so hieß es zunächst. Dann brachte ein Gutachten die wirklichen Dimensionen ans Tageslicht: So sind an jenem 30. August insgesamt 180.000 Liter ausgelaufen und ins Erdreich gelangt. Davon – und daran entzündet sich bis heute massive Kritik an der Bahn – könnten auch nach einem ersten Sanierungsschritt noch immer 40 bis 50 Prozent im Boden sein. Während weder ein Zwischen- noch Abschlussbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) zur Entgleisung vorliegt, gibt das Gerichtsverfahren aus Münster erste Hinweise.
Für den Straßenverkehr gilt: Ist man mit Krad, Auto oder Lkw im Straßenverkehr mehrfach zu schnell unterwegs, ist irgendwann der Führerschein weg. Ist dieser Grundsatz auch für Triebfahrzeugführer (allgemein meist als Lokführer bezeichnet) im Eisenbahnverkehr gültig? Das OVG Münster sagt: Ja. Die Entziehung des Triebfahrzeugführerscheins ist wegen Unzuverlässigkeit gerechtfertigt, wenn es zuvor mehrere Geschwindigkeitsverstöße gegeben hat. Im Oktober 2020 wurde einem Lokführer mit sofortiger Wirkung der Führerschein entzogen, weil er zu schnell unterwegs war. So hatte er im April 2019 während einer Zugfahrt mehrmals die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 10 bis 30 Stundenkilometer überschritten sowie ein rot zeigendes Haltesignal überfahren. Am 30. August 2020 war er der Lokführer des mit Dieselkraftstoff beladenen Güterzugs, der im Bahnhof Niederlahnstein entgleiste. Gegen die Entziehung des Führerscheins hatte er Klage erhoben, zudem beantragte er Eilrechtsschutz. Das Verwaltungsgericht Köln wies den Antrag auf Eilrechtsschutz zurück. Dagegen richtete sich die Beschwerde des Triebfahrzeugführers vor dem OVG. Diese war jedoch ebenfalls erfolglos.
Mehrfach zu schnell unterwegs
Der Triebfahrzeugführer hat sich, wie das Verwaltungsgericht Köln zu Recht festgestellt hatte, durch erhebliche und/oder wiederholte Verstöße gegen eisenbahnverkehrsrechtliche Geschwindigkeitsregelungen als unzuverlässig erwiesen. Der Lokführer hatte die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 90 um 17 Stundenkilometer während der Zugfahrt am 30. August 2020 eingeräumt, was sich für das Gericht als erheblichen Verstoß gegen eisenbahnverkehrsrechtliche Vorschriften darstellt.
Eine solche Geschwindigkeitsüberschreitung ist schon angesichts des vom Antragsteller geführten Güterzugs mit Gefahrgütern nicht unerheblich und – entgegen der Auffassung des Lokführers – erst recht nicht mit der Situation bei Verstößen gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften mit Kraftfahrzeugen vergleichbar. Denn Fahrzeuge, die unter diese Vorschriften fallen, haben schon wegen der bewegten geringfügigeren Masse ein anderes Beschleunigungs- und Bremsverhalten als ein viele hundert Tonnen schwerer Güterzug.
Für das Verwaltungsgericht war auch nicht glaubhaft, der Zug sei „allenfalls kurzzeitig“ mit zu hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen, da dies bei einem Güterzug „schon mit Blick auf die Gesetze der Physik denklogisch ausgeschlossen ist“. Abgesehen davon, belege die Auswertung der elektronischen Fahrtenregistrierung der Zugfahrt vom 30. August, dass der Lokführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit während der Fahrt „an zahlreichen und langen Abschnitten“ – und damit nicht nur kurzzeitig – überschritten hatte.
40 oder 60 im Bahnhof signalisiert?
Sollte im Bahnhof Niederlahnstein tatsächlich als zulässige Höchstgeschwindigkeit 40 Stundenkilometer signalisiert gewesen sein, stehe die Erheblichkeit des Verstoßes angesichts einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 22 Stundenkilometern außer Frage. „Aber selbst wenn die Aussage des Lokführers zutreffen sollte, dass in diesem Bereich 60 Stundenkilometer angeordnet waren, hätte er auch diese überschritten, denn im Bereich der Weiche 35 ist eine Geschwindigkeit von 62 dokumentiert“, urteilte das Gericht. Den Einwand des Lokführers, diese Aufzeichnung sei ungenau, ließ man nicht gelten. Einen Rückschluss auf seine Unzuverlässigkeit sieht das Gericht auch in der Wahl der falschen Zugart M im Zugsicherungssystem. Die vor Fahrtantritt einzustellende Zugart U gewährleistet eine besonders restriktive Überwachung. Dieser entzog sich der Lokführer durch die Wahl der Zugart M und deren Beibehaltung während der gesamten Fahrt.
Auch ein während einer Zugfahrt vom Lokführer aufgenommenes Video-Selfie, bestärkte das Gericht in seiner Haltung, da der Zug während der Aufnahme mit Tempo 95 unterwegs war und daher die volle Aufmerksamkeit des Lokführers verlangt hätte. „Eine derartige Verhaltensweise ist mit der sicherheitsrelevanten Verantwortung eines Triebfahrzeugführers nicht zu vereinbaren“, urteilt das Gericht. Dabei wiege besonders schwer, dass der Antragsteller mit dem Transport von Gefahrgütern betraut war und ihn eine „gesteigerte Verantwortung für einen sicheren Verlauf der Zugfahrt traf“.