Waldorfschüler der zwölften Klasse aus Diez führen das Stück "Phädra" auf
Moderner Klassiker: Zwischen Metoo, Wachheit, Begierde und Verlangen
In der Aufführung der zwölften Klasse aus der Waldorfschule traten Valentina Leschinski als Phädra und Ben Brinkmann als Max auf. Foto: Denise Künzer

Diez. Die zwölfte Klasse der Freien Waldorfschule Diez hat sich für ihre Theateraufführung Racines „Phädra“ ausgesucht: Die Liebe einer älteren, reifen Frau zu einem jungen Mann, einem Teenager. Das berichtet Lehrer Michael Türk, der die Zwölftklässler bei diesem Theaterprojekt betreut hat.

Das Stück, das vor allem durch Jean Racine in der Barockzeit eine besondere Verbreitung fand, wurde völlig von den Schülern umgekrempelt und ganz neu gefasst, denn in Zeiten von „Metoo“ und „Wokeness“ (Wachheit) stellt sich die Ausgangssituation noch einmal ganz neu dar.

Wo liegen die Unterschiede zwischen einem reifen, erwachsenen Mann mit junger Freundin und einer reifen, erwachsenen Frau mit jungem Freund? Und wie steht es mit Begierde und Verlangen? Ein Mann „kann“ immer und darf es auch ... aber eine Frau? Darf sie ihr Verlangen ausdrücken und ihm nachgehen? Dieses Problemfeld wurde von den Schülern durchgeackert und umgepflügt. Die Probearbeiten bestanden aus ernsthafter Text- und Szenenentwicklung und stundenlangen Diskussionen – vor allem darüber, wie jugendliche Darsteller diese Verhältnisse darstellen können.

Viel improvisiert

Der „junge Mann“ ist tatsächlich 17, die „reife, erwachsene“ Frau, die 45 sein soll, ist aber gleich alt; die Schüler haben aus Improvisationen und Übungen – es gab kein Skript, keinen umgearbeiteten, auswendig zu lernenden Text – ein modernes Stück erarbeitet, was am Ende viele Fragen offenlässt. Phädra wird von ihrer besten Freundin mit dem Satz konfrontiert: „Du verlierst dich selbst in deinen Gefühlen!“ Und sie antwortet: „Aber ich bin doch ein Mensch!“

Racine war aber doch anwesend: In zwei Szenen ergab es sich, dass alle wussten: Jetzt muss ein Monolog kommen. Monologe sind aber das Unnatürlichste, denn keiner „babbelt“ theatralisch zu sich selbst drauflos; also wurde der Originaltext von Racine vorgelesen. Phädra sitzt alleine in einem Café und liest sich laut die Monologe der „klassischen“ Phädra vor – und genau das funktionierte. Am Ende stirbt Phädra auch nicht, die moderne Variante ist der soziale Tod: Ein Sexvideo wird veröffentlicht, und die strahlende, erfolgreiche Phädra ist „erledigt“.

Großer technischer Einsatz

Mit sehr viel technischem Einsatz wurde alles in Szene gesetzt: Die Liebesszene war unterlegt von „Wicked Games“ in einer Coverversion in epischer Länge, das Sexvideo war eine Einspielung eindeutiger Geräusche. Sehr genial spielt sich der eigentliche „Film“ im Kopf des Zuschauers ab. Die Schüler bekamen sehr viel Lob für ihren Mut, das Thema aufzugreifen, und für die überaus einfühlsame Darstellung. red

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