Bad Ems/Wetzlar
Leica-Erfinder testete Prototyp in Bad Ems

Diese Aufnahme hat Oskar Barnack 1914 mit seiner Ur-Leica auf der Bäderlei in Bad Ems gemacht. Das Foto zeigt August Bauer, den damaligen Betriebsleiter der Leitz-Werke in Wetzlar, an der von Barnack im Vorjahr fertiggestellten Filmkamera für Bewegtbilder. Ein ähnliches Bild zeigt Barnack selbst an dieser Stelle. Es wurde wohl von Bauer aufgenommen.

Leica Camera AG

Bad Ems/Wetzlar - Noch bevor die Welt etwas von seiner Existenz ahnte, war der Prototyp der heute geradezu legendären Leica-Kleinbildkamera in Bad Ems im Einsatz.

Mit der vor genau 100 Jahren fertiggestellten Ur-Leica war Erfinder Oskar Barnack vermutlich im Frühsommer in der Kurstadt auf Stippvisite, von der heute noch zwei Fotografien und ein Film mit bewegten Bildern zeugen. Sie zeigen Bad Ems kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und machen deutlich, wie belebt das Kurviertel damals von flanierenden Gästen war.

Schon 1913 war Barnack in Bad Ems zu Gast. Der Ingenieur, Feinmechaniker und Entwicklungschef für Filmkameras bei Leitz in Wetzlar war Asthmatiker und hielt sich laut Gästeverzeichnis vom 4. August bis 17. September zur Kur dort auf. Während dieser Zeit residierte er im heute nicht mehr existierenden Gasthaus Stadt Straßburg in der Römerstraße 80. Das geht aus den „Emser Fremdenlisten“ hervor, die im Stadtarchiv aufbewahrt werden. Die Kur hing vermutlich mit seiner chronischen Atemwegserkrankung zusammen.

Im März 1914 war „Liliput-Kamera“ fertig

Sein Asthma und seine Leidenschaft für Naturfotografie sollen auch Barnacks Antrieb für die Entwicklung einer handlichen Kamera gewesen sein. Die damals üblichen schweren Plattenkameras und ihre Stative waren offenbar eine große Last für den aus Brandenburg stammenden Mittdreißiger. Deshalb tüftelte er neben seiner Arbeit für die Leitz-Werke privat an einer Alternative. Im März 1914 vermerkt er in seinen Unterlagen: „Liliput-Kamera fertiggestellt.“ Den heute als Ur-Leica bekannten Prototyp benannte er in Anlehnung an die Insel der Kleinwüchsigen aus Jonathan Swifts Roman „Gullivers Reisen“.

Aus seiner beruflichen Tätigkeit in der Filmkamerafertigung von Leitz rührt wohl seine Idee, den für Bewegtbilder genutzten 35 Millimeter breiten Film auch für Fotoaufnahmen zu verwenden und damit Maß und Gewicht des Apparats erheblich zu reduzieren. Mit der Verdoppelung des Negativformats im Vergleich zum einzelnen Bewegtfilmbild stellte Barnack sicher, dass selbst auf vergleichsweise großen Abzügen noch genügend Details zu erkennen waren. Das von ihm genutzte Format von 36 mal 24 Millimeter gilt selbst bei der modernen Digitalfotografie unter der Bezeichnung Vollformat noch heute als das Maß der Dinge. An der ersten Kleinbildkamera der Geschichte verbaute Barnack ein eigentlich für Leitz-Mikroskope gedachtes Objektiv Mikro-Summar mit 42 Millimeter Brennweite.

Zwei Aufnahmen von der Bäderlei

Seine brandneue Erfindung trug Barnack offenbar häufig bei sich, um genau das zu machen, was ihm bis dahin kaum möglich war: spontan einige Aufnahmen anzufertigen. Dazu kehrte er 1914 auch nach Bad Ems zurück. Im Archiv von Leica sind zwei Fotografien von der Bad Emser Bäderlei erhalten geblieben. Beide zeigen jeweils einen Herren an einer ebenfalls von Barnack entwickelten Filmkamera mit Kurbelantrieb. Eine Aufnahme zeigt Barnack und wurde von Leitz-Betriebsleiter August Bauer gemacht, für das andere Bild tauschten sie die Rollen. Wann die Fotografien genau entstanden, ist nicht bekannt. Ulf Richter, Autor des Buchs „Von der Idee zur Leica“, ist aufgrund des Sonnenstands und der Blattentwicklung an den Bäumen sicher, dass es im Sommer war – aber vor Ausbruch des Krieges im August. Barnack und Bauer können laut Stadtarchivar Sarholz nur auf der Durchreise gewesen sein und sich maximal drei Tage lang in Bad Ems aufgehalten haben. Einen Eintrag im Kurgastverzeichnis gebe es nicht. Der Film, den Barnack im Kurviertel drehte, ist im Bad Emser Stadtmuseum zu sehen und im Internet (www.ku-rz.de/barnack) auf der Seite des Deutschen Filminstituts abrufbar.

Von der Ur-Leica gab es 1914 ein zweites Exemplar. Dieses nahm Firmenchef Ernst Leitz II. im Frühsommer mit auf eine Reise in die USA. Auch seine Aufnahmen sind im Archiv des Unternehmens erhalten. Leica bewahrt auch eine Ur-Leica sowie die auf dem Bad Emser Foto zu sehende Filmkamera auf. Sie kehrte im Oktober 2010 für einen Tagesausflug des Vereins Leica Historica zurück auf die Bäderlei. Über den Verbleib des zweiten Ur-Leica-Exemplars gibt es viele Gerüchte, „aber einen überprüfbaren Hinweis gibt es nicht“, sagt Buchautor Ulf Richter.

Nur noch 17 Exemplare existent

Der Weltkrieg verhinderte, dass Barnack seine Erfindung zügig weiterentwickeln konnte. Erst 1920 entstand ein weiterer Prototyp, drei Jahre später dann die erste Kleinserie mit vermutlich 26 Exemplaren. Das von Barnack selbst benutzte Modell dieser sogenannte Nullserie wurde von dessen Sohn Conrad um 1960 an einen amerikanischen Sammler verkauft, wie Ulf Richter berichtet. Laut Leica existieren noch 17 Exemplare der Nullserie. Eines wurde vor zwei Jahren auf einer Auktion für 2,16 Millionen Euro versteigert. Es gilt als teuerste jemals verkaufte Kamera. Vor 14 Jahren legte Leica eine limitierte Zahl von Repliken auf, die gemeinsam mit je einem Abzug von Originalnegativen Barnacks für je 2500 Euro verkauft wurden.

Erst neun Jahre nachdem Barnack mit seinem ersten Prototyp in Bad Ems Bilder machte, begann die Revolution der Fotografie durch die erste in Serie gebaute Kleinbildkamera. Die Leica I A wurde 1925 auf der Leipziger Frühjahrsmesse vorgestellt. Sie kostete 290 Reichsmark und war mit einem 50-Millimeter-Objektiv ausgestattet. Dazu gab es drei Rollen Perutz-Film. Bis Mitte der 1930er-Jahre wurden knapp 60 000 Exemplare dieses ersten Serienmodells gebaut. Die Leica machte die Straßen- und Reportagefotografie erst möglich. Ikonen wie Henri Cartier-Bresson, Robert Capa und Alfred Eisenstaedt haben mit ihren Bildern erheblich zum Mythos beigetragen. 2010 wurde die Viermillionste Leica hergestellt.

Von unserem Redakteur Carlo Rosenkranz

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