Könnte man sich einen Mediziner aussuchen, stünde Prof. Dr. Giovanni Maio für viele Patienten an oberster Stelle ihrer Wunschliste. Nur: Der Arzt, Philosoph und Universitätsprofessor für Medizinethik/Bioethik an der Universität Freiburg und Buchautor, ist nicht mehr klinisch tätig. Aus seinem Selbstverständnis heraus will der in Politik und Kirche gefragte Experte mit den Menschen reden und ihre Sorgen kennenlernen.
„Erfahrungen, die in der Corona-Krise wie auch durch den Klimawandel und durch die aktuellen Kriegsereignisse gemacht werden, haben das Bewusstsein für die Verletzlichkeit neu geweckt“, stellte der Mediziner fest. Es sei sehr deutlich geworden, dass jede und jeder grundsätzlich von Krankheit betroffen sein könne. Auch Menschen, die im Streben nach eigenen Werten glaubten, unverletzbar zu sein, unterlägen der Gefahr, ihre Integrität zu verlieren. „Wir sind der Möglichkeit, verletzt zu werden, ausgeliefert“, schärfte Maio den Blick auf die Grundverletzlichkeit eines jeden Menschen.
Autonomie ein resultat einer geglückten Beziehung
„Der moderne Mensch würde sich am liebsten so sehen, dass er niemand anderen braucht.“ Die Autonomie sei keine Gabe, sondern eine Aufgabe. „Ich kann nur ich sein, wenn ich ein Du habe“, sagte der Philosoph und begründet seine These: „Die Autonomie ist das Resultat einer geglückten Beziehung; sie ist das Ergebnis der Entwicklung mit anderen. Bis Corona dachten Menschen, dass sie unverwundbar sind. Später hat man realisiert, dass es um eine Verletzlichkeit aller geht, ob als Kind oder im Alter, in Bezug auf Körper und/oder Seele.
Die Politik habe maßlos, nicht ausgewogen reagiert, Kontakte untersagt, Menschen mussten alleine sterben, die Auswirkungen auf die Jugend seien völlig aus dem Blick geraten. Die Verletzlichkeit sei auf die physische Situation begrenzt worden mit psychischen Folgen. Verletzlichkeit rufe nach der Sorge, dass sich andere Menschen kümmern. Der Professor: „Wenn der Staat sieht, dass Menschen einsam zerbrechen, dann muss er für neue Strukturen sorgen, zum Beispiel alte Menschen in die Mitte holen, sich für sie interessieren. Wenn wir erkennen, dass wir verletzlich sind, haben wir die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen.“ Maio sagt: „Wir brauchen einen Staat, der in prekären Situationen dafür sorgt, damit Menschen selbst stark werden können.“
Wir müssen auch bereit sein, uns infrage zu stellen.
Giovanni Maio
Sodann ging der Universitätsprofessor auf seine Kolleginnen und Kollegen ein: „Ärzte müssen stabilisieren, indem sie die Sorgen ihrer Patienten wahrnehmen und sie nicht wie Kunden behandeln.“ In der Medizin werde viel doziert, viel abgefragt, aber nicht gefragt. Es müsse ein Gespräch auf Augenhöhe geführt werden – naiv und neugierig – in dem der Andere nicht zu einem Fall gemacht werde. „Wir müssen auch bereit sein, uns infrage zu stellen. Die Medizin ist weit davon entfernt. Wissen über Medizin weiß oft nichts über den Menschen. Wenn wir uns eingestehen, dass wir selbst verletzlich sind, dann gehen wir ganz anders mit einem Patienten um, dann ist er wie ein Verwandter. Keine Zeit zu haben ist eine Entsorgung der Sorge. Medizin ist gelebte Sorge.“
Die Zuhörerinnen und Zuhörer hingen an seinen Lippen. Professor Maio weiß selbst am besten, dass Ärzte ständig unter Zeitdruck stehen, dass die Apparatemedizin weitaus besser honoriert wird als das Zwischenmenschliche. „Das ist die Schieflage unserer Zeit“, sagt er und fordert: „Das muss beendet werden und deshalb brauchen wir neue Strukturen.“ Die Beziehungsarbeit sei wertvoll und müsse besser bezahlt werden. Würden Menschen allein gelassen, liege ihr Potenzial brach. Gerade der Mensch am Ende seines Lebens habe so viele Ressourcen. Auf die Frage aus dem Publikum, ob er Wut empfinde, antwortete Maio: „Ja manchmal. Die Wut kann uns anstacheln, etwas zum Besseren zu tun.“
Der Referent
Giovanni Maio (Jahrgang 1964) ist in Italien geboren und kam mit seinen Eltern Ende 1970 in den Raum Freiburg. Er studierte Medizin und Philosophie an den Universitäten Freiburg, Straßburg und Hagen. Habilitiert ist er seit 2000 im Fach „Ethik und Geschichte der Medizin“. 2002 wurde er durch die Bundesregierung in die Zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung berufen. 2004/05 erhielt Maio Rufe auf Lehrstühle für Medizinethik an den Universitäten Zürich, Bochum, Freiburg und Aachen. Als Universitätsprofessor für Bio- und Medizinethik ist er Direktionsmitglied des interdisziplinären Ethikzentrums und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin.