Nessi Tausendschön alias Annette Maria Marx, wie die Künstlerin mit bürgerlichem Namen heißt, ließ es im Theater im Badhaus wieder einmal ordentlich krachen. Mit viel Witz in Wort, Gesicht, Stimme und Gesten wechselte sie immer wieder blitzartig die amüsante Stimmungslage und schickte leisem Säuseln um den Bart des Publikums auch schon mal einen laut schimpfenden Donner hinterher.
„Die wunderbare Welt der Amnesie“ hat die Vollblutkomödiantin und -diseuse an die Lahn mitgebracht. Eine Anspielung auf die mediale Flut an Nachrichten, die heute vergessen macht, was gestern noch wichtigstes Gesprächsthema war. „Das Internet ist eine riesige Amnesie-Maschine!“ Die Politik wisse das: So stecke wohl das iranische Mullah-Regime hinter dem Tod Michael Jacksons, der rechtzeitig die Schlagzeilen über die Grüne Revolution im Iran verdrängte. Ein anderer Verdacht: Gerhard Schröder habe den Osten geflutet, um die Wahl zu gewinnen und Karl-Theodor zu Guttenberg Fukushima in die Luft gejagt, um von seinen Plagiaten abzulenken. Die Fake-News geistiger Billigbäcker wie eines Donald Trump müssten sich die Menschen umgedreht zunutze machen, um bei potenzhungrigen Chinesen etwa Appetit auf IS-Kämpfer zu wecken. Nebenbei erfährt das gut gelaunte Publikum, dass fünfmal mehr Geld für Potenzmittel als für die Alzheimer-Forschung ausgegeben wird. Nessie parliert über Stutenbissigkeit und Testosteron-gesteuerte Macken der Männer und gibt Helikoptereltern noch einen mit, die die Welt mit Rechtsanwälten überfluten möchten, wo ein Kind doch auch als „Hebammerich“ glücklich werden könne.
Politik- und Gesellschaftskritik liefern aber nicht den entscheidenden Pfiff für das hoch vergnügliche Gastspiel. Die Mischung macht's vielmehr. Eine kunterbunte Portion an Hinter- und Blödsinn im besten Stil, die selbst vor Seitenhieben aufs eigene Fach keinen Halt macht und in der Kombination der humoristischen Genres an Christian Grabbes „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts erinnert. Die mitreißende Kunst der Kabarettistin besteht in der Intensität, mit der sie Augen, Ohren, Hirn und Herz auf die kleine Bühne zieht. Von der Fuß- bis zur Haarspitze steht die „Kaspeuse“, die für die Bad Emser den dienstleistenden Kaspar macht, unter schauspielerischem Starkstrom. Besonders markant gelingt ihr das in zwei Kunstfiguren. Die treu-doof-naive Gabi Pawelka, die ihr im Motivationsseminar „Scheitern als Schanze“ erlerntes Wissen zu mehr Selbstbewusstsein süß stotternd weitergibt. Ihre Parodie als Ludmilla aus Kasachstan steht dem an Leidenschaft in nichts nach.
Heulen, Seufzen, Zischen, Kreischen, Quietschen, Piepsen, Schreien – bei solch einem Stimmen-Register dürften die größten Orgeln der Welt vor Neid erblassen. So facettenreich sie ihre Stimmbänder zum Klingen bringt, so gefühlvoll lässt sie die Säge zwischen ihren Beinen singen. Musik ist der zweite packend pfiffige Pfeiler dieses komödiantischen Abends. Außer dem Panoptikum an Geräuschen erzeugenden Utensilien auf dem Tisch neben ihr sorgt William Mackenzie an der Gitarre für den passenden einfühlsamen, manchmal sphärischen Sound. Er ist ebenso das ruhende Gegenstück zu dem Energiebündel daneben, wenn er nicht gerade als Pausen-Copperfield Magie beziehungsweise Maggi in kleiner und großer Flasche herbeizaubert.
Von skurrilen und an den Dadaismus erinnernden Ausrufen bei einigen ihrer Lieder wie dem Titelsong „Wider das Vergessen“ abgesehen, zeigt sich das Mensch gewordene Gänseblümchen dank ihrer großartigen Stimme oft von einer samtweichen, gefühlvollen, nachdenklichen, auch melancholischen Seite.
„Glücklich sind die ohne Hirn“ oder „Sei einfach da!“ heißt es da lebensweise und sehnsuchtsvoll, und in (der) „Bar der Vernunft“ trieft geradezu der Weltschmerz ins Parkett hinunter, wenn „die Tränenkanäle nach innen verlegt“ und „die rosigen Zeiten, die kommen“, mit Alkohol begossen werden. Aber bevor das Publikum ins Schwärmen oder gar Schluchzen kommt, gibt's kurz darauf wieder eine rhythmische Kehrtwende, eine gesungene Persiflage auf russische Heimatträume zu deutschen Volksliedmelodien oder einen „personifizierten Ohrwurm“, in dem sie der gehassten Ariane mit dem mitsingenden Theater die Fahrt zur Hölle wünscht.
Am Ende bekommt die mit ganzer Seele, pfiffigem Kopf und ganzem Körpereinsatz agierende Kabarettistin selbst nach knapp drei Stunden noch ein anhaltendes Lieblingsgeräusch zu hören: Applaus. Bernd-Christoph Matern