Kritik an Sanktionssystem
Jobcenter Rhein-Lahn: Sanktionen durch die Hintertür?
Verschärfungen beim neuen Bürgergeld könnten auch Melanie G. aus Nastätten das Leben schwer machen.
Jens Kalaene. Jens Kalaene/dpa

Weil eine Frau aus Nastätten Einkommensnachweise ihres Sohnes zu spät einreichte, strich ihr das Jobcenter die kompletten Leistungen. Trotz gegenteiliger Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Kein Einzelfall – sagt ein Experte.

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD steht. Nach nicht einmal vier Jahren soll das Bürgergeld, das dem damaligen Koalitionspartner FDP in harten Verhandlungen abgetrotzt wurde, wieder verschwinden und durch eine „neue Grundsicherung“ ersetzt werden. Bei Menschen, die wiederholt Jobangebote ablehnen, soll es zukünftig wieder möglich sein, 100 Prozent der Leistungen zu kürzen. Dies soll jedoch laut Koalitionsvertrag unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschehen. Und hier liegt die Krux. Denn das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass die Praxis der vollständigen Leistungskürzung verfassungswidrig ist.

„Wenn ich auf meiner Post nur den Absender Jobcenter lese, bekomme ich Panikattacken“
Melanie G. sitzt im Rollstuhl und ist „Kundin“ des Jobcenters Nastätten

Von den verschärften Regelungen könnte zukünftig auch Melanie G. aus Nastätten betroffen sein. Sie bezieht vom dortigen Jobcenter Bürgergeld und fühlt sich seit Längerem gegängelt. „Wenn ich auf meiner Post nur den Absender Jobcenter lese, bekomme ich Schweißausbrüche und Atemnot bis hin zu Panikattacken“, erklärt sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Melanie G. sitzt im Rollstuhl. Sie hat eine kleine Tochter, die sie jeden Morgen zum Kindergarten bringt.

G. hat ein Attest von ihrem Arzt, der ihr bescheinigt, dass sie aufgrund von Depressionen und Panikattacken nicht arbeitsfähig ist und auch keine Termine wahrnehmen kann. Das Attest liegt unserer Redaktion vor. Auch das Jobcenter Nastätten hat Kenntnis davon. Dennoch schickt der für sie zuständige Sachbearbeiter Frau G. regelmäßig Termineinladungen zu Uhrzeiten, an denen sie ihre Tochter in den Kindergarten bringt, und kürzt ihr die Leistungen um zehn Prozent, wenn sie diese Termine nicht wahrnehmen kann. „Ich habe dem Sachbearbeiter erklärt, dass er mir fast immer Termine zu Uhrzeiten schickt, an denen ich meine Tochter in den Kindergarten bringe“, beklagt Melanie G. Wenn sie dem Sachbearbeiter in der Vergangenheit erklärt habe, dass sie mit ihrem Rollstuhl erst durch die ganze Stadt vom Kindergarten zum Jobcenter müsse und deshalb zur geforderten Zeit nicht pünktlich sein könne, habe er mehrfach geantwortet: „Andere Mütter schaffen das auch.“ Sie bat daraufhin, einen anderen Sachbearbeiter zugewiesen zu bekommen. Dies wurde jedoch abschlägig beschieden. Das Ablehnungsschreiben hierzu liegt unserer Redaktion ebenfalls vor.

Komplette Leistungsversagung trotz gegenteiliger Rechtsprechung

Als sie Unterlagen über die Einkünfte ihres Sohnes nicht rechtzeitig vorbeibrachte, wurden Frau G. zeitweise die Leistungen komplett gestrichen, trotz Urteils des Bundesverfassungsgerichts, dass Sanktionen von mehr als 30 Prozent Leistungskürzung als verfassungswidrig einstuft.

Wir konfrontierten das Jobcenter Rhein-Lahn, dem das Jobcenter Nastätten untersteht, mit den Vorgängen. Auf unsere Frage: “Wieso schickt das Jobcenter Nastätten Frau G. Termine, obwohl sie arbeitsunfähig geschrieben ist und ihr bescheinigt wurde, dass sie keine Termine wahrnehmen kann?“, antwortete die Behörde: „Sofern einer Einladung aufgrund einer bestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht nachgekommen werden kann, wird bei Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich ein wichtiger Grund anerkannt. In diesen Fällen kommt es nicht zu einer Leistungsminderung. Arbeitsunfähigkeit ist jedoch nicht in jedem Einzelfall gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen. Vor der konkreten Entscheidung über eine Leistungsminderung erfolgt immer eine Anhörung der Betroffenen, in deren Rahmen auch noch Atteste oder Krankmeldungen eingereicht werden können und entsprechend berücksichtigt werden.“ Ein solches Attest hatte Melanie G. jedoch vorgelegt.

Auf unsere Frage: „Wieso wird Frau G.’s Bitte, einen neuen Sachbearbeiter zu bekommen, nicht entsprochen?“, antwortet das Jobcenter: „Dem Wunsch nach einem anderen Sachbearbeiter kommen wir in der Regel nur in begründeten Ausnahmefällen nach. Dies liegt daran, dass die Kollegen für ihre jeweilige Aufgabe spezifisch qualifiziert sind und daher nicht beliebig ausgetauscht werden können.“ Der Wunsch, nicht mehr von einem Sachbearbeiter betreut zu werden, dessen Briefkopf allein ausreicht, um bei Melanie G. eine Panikattacke auszulösen, erscheint dem Jobcenter Rhein-Lahn offensichtlich als „beliebig“.

Auch konfrontierten wir das Jobcenter mit der Aussage des Sachbearbeiters „Andere Mütter schaffen das auch“, vor dem Hintergrund, dass Melanie G. psychisch und körperlich beeinträchtigt ist. Zum Inhalt des Satzes selbst wollte man sich zwar nicht äußern, erklärt jedoch, die Aufgabe der Jobvermittlung bestünde auch in der „Ermutigung“. Insofern habe der Sachbearbeiter das Aufzeigen „positiver Beispiele“ im Sinn gehabt. Ermutigt fühlt sich Melanie G. ganz und gar nicht. Sie empfindet diese Art des Umgangs vielmehr als Demütigung.

Weiterhin wollten wir wissen: „Wieso kürzt das Jobcenter Leistungen um 100 Prozent, obwohl das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass maximal 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden dürfen? Die Behörde antwortet: „Fehlen die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Bürgergeld grundsätzlich oder erlangt das Jobcenter Kenntnis über Tatsachen, die zu einem vollständigen oder teilweisen Wegfall des Leistungsanspruchs führen können, ist eine Einstellung der Leistungen denkbar.“

„Das ist kein Einzelfall.“
Sozialrechtsexperte Sebastian Neis

Sebastian Neis ist Sozialrechtsexperte und war selbst zweieinhalb Jahre lang für ein Jobcenter tätig. „Der geschilderte Fall ist leider kein Einzelfall und zeigt exemplarisch, woran es im Umgang mit Menschen in schwierigen Lebenslagen hapert“, sagt Neis. In Bezug auf die Frage, warum Melanie G. trotz ihres Attestes zu Terminen geladen wird, sagt der Sozialrechtsexperte: „Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung allein genügt bei einer Terminladung nicht, wenn das Jobcenter explizit auf die Notwendigkeit der Reiseunfähigkeitsbescheinigung hingewiesen hat. Hier beginnt häufig die Schikane. Menschen, die psychisch schwer belastet sind, werden durch diese Bürokratie zusätzlich unter Druck gesetzt.“ Besonders bedenklich findet Neis die Praxis von Jobcentern, trotz gegenteiliger Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht Leistungen komplett zu streichen. „Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 klargestellt, dass Leistungsminderungen 30 Prozent nicht überschreiten dürfen. Die im vorliegenden Fall erfolgte vollständige Leistungseinstellung bezieht sich jedoch nicht auf Sanktionen, sondern auf eine sogenannte Versagung wegen unterlassener Mitwirkungspflichten. Diese Unterscheidung nutzen Jobcenter häufig, um Sanktionen durch die Hintertür zu verhängen. Ich halte diese Praxis für rechtsstaatlich bedenklich.“

„Das ist menschenunwürdig“
Sebastian Dohn, Die Linke Koblenz/Rhein-Lahn

2023 mussten Jobcenter in Deutschland bei einem Drittel der gegen Sanktionen eingelegten Widersprüche ihre ursprüngliche Entscheidung revidieren. Bei mehr als einem Viertel dieser Fälle aufgrund fehlerhafter Entscheidungen durch die Mitarbeiter der Jobcenter. Noch höher war die Quote der von Gerichten kassierten Sanktionsbescheide. Trotz dieser hohen Fehlerquote seitens der Jobcenter will die zukünftige Bundesregierung deren Befugnisse beim Verhängen von Sanktionen gegenüber Menschen wie Melanie G. noch ausweiten.

Sebastian Dohn vom Bezirksvorstand der Partei Die Linke Koblenz/Rhein-Lahn ist alarmiert: „ Der Fall von Frau G. ist Alltag in einem System, das psychisch erkrankte Menschen behandelt wie Totalverweigerer. Wer krank ist, gehört nicht ins Jobcenter, sondern braucht Hilfe, keine Drohungen. Soziale Sicherheit ist kein Almosen, sondern ein Recht. Dass derzeit Menschen in Angst vor Leistungsentzug leben, ist unsozial und menschenunwürdig. Wir brauchen eine sanktionsfreie Mindestsicherung, die Armut verhindert“, ist Dohn überzeugt.

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