"Das Beste, was uns passieren konnte": Wie Siegbert Wolter selbstbestimmt leben und in Würde sterben konnte
Im Hospiz umsorgt statt nur versorgt
Er war ein begeisterter Opa: Siegbert Wolter und sein Enkel Liam. Liams Einschulung hat er nicht mehr erlebt, am 24. Juli 2024 ist Siegbert Wolter im Hospiz Anavena verstorben. Fotos: Mandy Wolter
Mandy Wolter

Hadamar. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ihr ihre ganze Professionalität nichts mehr genutzt hat, an dem sie und ihr Mann sich mit dem Gedanken vertraut machen mussten, dass ihr Schwiegervater so krank ist, dass er sterben wird, so mutlos, dass er nur noch sterben will. Und dass es ganz schwer zu entscheiden ist, wo der beste Ort für einen Menschen in der letzten Lebensphase ist. Dass Siegbert Wolter nicht im Krankenhaus bleiben soll, war klar. Wo er sterben will, erst einmal nicht.

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Natürlich lag der Gedanke nahe, dass sein Sohn ihn aufnimmt, schließlich ist seine Schwiegertochter Altenpflegerin, er hat sich immer gut mir ihr verstanden, viel Zeit mit seinem Enkel verbracht. Und es wäre ja auch nur für ein paar Wochen, hieß es, die Ärzte hatten Siegbert Wolter keine gute Prognose gegeben – obwohl er erst 69 Jahre alt und eigentlich immer fit gewesen war. Bauchspeicheldrüsenkrebs hieß die Diagnose, und Siegbert Wolter hatte nach der Operation jegliche Therapien abgelehnt, jeden Lebenswillen verloren. Er wollte nicht einmal mehr essen.

„Zugetraut hätte ich mir die Pflege schon“, sagt Mandy Wolter. Aber nicht in ihrer Wohnung, wo es nicht einmal ein Zimmer für ihren Schwiegervater gegeben hätte, und wo ihr Sohn jeden Tag hätte erleben müssen, wie sein geliebter Opa immer weniger wird. Kurz hätten sie überlegt, ob ihr Mann Dennis zu seinem Vater nach Untershausen zieht, sagt Mandy Wolter. Dann hätte ein SAPV-Team die ambulante Palliativversorgung übernehmen können, und Siegbert Wolter wäre nicht alleine gewesen. Aber auch das lässt sich gar nicht gut mit einem Job vereinbaren.

„Wir waren völlig überfordert“, sagt Mandy Wolter. Dann schlug das Herz-Jesu-Krankenhaus in Dernbach ein Hospiz vor, besorgte sogar einen Platz. Am 22. Dezember 2022 zog Siegbert Wolter ins Hospiz Anavena in Hadamar ein. Das erste Mal. „Das war das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Mandy Wolter heute. Denn im Hospiz fand Siegbert Wolter seinen Lebenswillen wieder. Wurde so lebendig, dass er das Hospiz wieder verlassen konnte, dass er ein Jahr wieder allein und selbstständig in seiner Wohnung leben konnte, dass die Mitarbeiterinnen vom „Weihnachtswunder“ sprechen.

„Wir waren erst einmal nur erleichtert, weil wir wussten, dass er gut versorgt ist“, sagt Mandy Wolter. Mit dem Krankentransport war er in Hadamar eingezogen, seine Familie brachte ihm ein paar Bilder, Kleidung, das Handy und eine Musikbox, damit er wenigstens Musik hören konnte. Er brauche nichts und wolle nichts, habe ihr Schwiegervater immer beteuert. Er wolle nur sterben. Vier Wochen habe er da nichts gegessen, „der körperliche Verfall war extrem“.

Sie habe oft mit ihrem Schwiegervater über die Sterbephasen gesprochen, sagt Mandy Wolter. Eigentlich sei er noch nicht so weit gewesen. „Er hatte sich aufgegeben, war in der depressiven Phase, aber da war noch keine Akzeptanz.“ Und das haben natürlich auch die Profis im Hospiz gemerkt. „Im Krankenhaus wurde er versorgt, im Hospiz wurde mein Schwiegervater umsorgt.“ Da kam jeden Tag der Koch ins Zimmer und fragte, worauf er denn Lust habe. Da kam Pfarrer Andreas Fuchs regelmäßig und hatte Zeit für Gespräche. Und jederzeit konnten die Familie und Freunde zu Besuch kommen und ein bisschen Alltag mitbringen. Wenn es ihm körperlich schlecht ging, die Schmerzen oder die Übelkeit kamen, war sofort ein Palliativmediziner zur Stelle.

Geburtstagsfeier im Speisesaal

Die Atmosphäre sei einfach gut gewesen. „Alle haben meinem Schwiegervater vermittelt, dass es in Ordnung ist, wenn er sterben will. Dass man das Sterben aber gestalten kann.“ Irgendwann bekam Siegbert Wolter wieder Lust aufs Essen. Erst habe er Eis probiert, dann mal ein Toastbrot mit Ei, dann Würstchen. Ganz wenig zunächst, aber immerhin so viel, dass sein Körper und seine Seele wieder zu Kräften kamen. „Im Januar 2023 ging es aufwärts.“ Lange hatte er überlegt, ob er seinen 70. Geburtstag überhaupt erleben würde, auf einmal fragte er sich, wer denn zur Feier käme. Siegbert Wolter hat seinen 70. mit einem Umtrunk im Speisesaal gefeiert, mit Familie, Freunden und Mitarbeitern des Hospizes.

Das schönste Geschenk sei ein Frühstücksbrettchen mit der Aufschrift „Weihnachtswunder“ gewesen, das ein Praktikant für ihn gemacht hatte, sagt Mandy Wolter. Ihrem Schwiegervater ging es immer besser, inzwischen hatte er auch wieder Freude an Restaurantbesuchen. „Seine Essenswünsche waren meist deftig und fettig.“ Und das sei auch für den Arzt kein Problem gewesen. Die Wünsche des Patienten hätten immer im Vordergrund gestanden.

Ostern ging es Siegbert Wolter wieder so gut, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, dass er einen Platz im Hospiz blockiert. Niemand hatte Bedenken, dass er wieder alleine zu Hause leben könnte, also zog Siegbert Wolter wieder in seine Wohnung, lebte vollkommen autark, fuhr wieder Auto, unternahm Ausflüge mit seinem Enkel. „Er hatte sich ins Leben zurückgekämpft“, sagt Mandy Wolter. Er hoffte inzwischen sogar auf Heilung, wollte es mit Chemotherapie versuchen. Aber es war offenbar zu spät. Nach 16 Chemotherapien war er wieder so kraftlos, dass er kaum noch aufstehen konnte, die Schmerzen waren wieder da, Schwindelanfälle. „Ich habe es versucht, jetzt will ich nicht mehr“, habe ihr Schwiegervater ihr gesagt und die Chemotherapie abgebrochen.

Kurz nach Ostern zog Siegbert Wolter wieder nach Hadamar ins Hospiz. Den Platz hatte er sich diesmal selbst besorgt. Und wieder ging es bergauf mit ihm, die palliativmedizinische Versorgung stimmte, die Atmosphäre ebenfalls. Auch der Umzug des Hospizes von Hadamar nach Limburg sei für ihn kein Problem gewesen. „Er hat sich sofort pudelwohl gefühlt.“ Die Mitarbeiter hätten es schnell geschafft, das neue Hospiz zum neuen Zuhause zu machen, aber es war klar, dass es nicht auf Dauer sein würde. Er hatte wieder weniger Hunger, hat vieles nicht vertragen. „Er hat so schnell abgebaut, dass sogar ich erschrocken war.“

In Ruhe von Familie verabschieden

Am 24. Juli ist Siegbert Wolter im Hospiz verstorben. Er hat nicht mehr erlebt, wie sein Enkel eingeschult wurde, aber er konnte sich in Ruhe von seiner Familie verabschieden. Heute weiß Mandy Wolter, dass er schon wusste, wann es so weit sein würde. „Die letzte Umarmung war anders als sonst.“ Am 23. Juli kam der Anruf des Hospizes, dass es ihm nicht gut gehe, dass er um mehr Morphium gegen die Schmerzen gebeten habe. Als seine Familie kam, war Siegbert Wolter in einer Art Dämmerschlaf, konnte nur noch nicken und auf Händedruck reagieren. „In der Nacht ist er eingeschlafen.“

Es sei nicht schön, jemandem beim Sterben zuzusehen, sagt Mandy Wolter. „Das Sterben ist ein sehr kräftezehrender Prozess, nicht nur für den Sterbenden.“ Deshalb hätten sie und ihr Mann auch ein bisschen Angst gehabt vor dem Besuch am nächsten Morgen. Aber ohne Grund: „Er lag so glücklich da. Da war so viel Liebe in dem Raum, so viel Frieden“, sagt Mandy Wolter. Das Bett habe in der Mitte des Zimmers gestanden, alles Medizinische war weg, dafür waren Blumen drapiert, es habe gut gerochen, das Licht war gedimmt. „Wir waren so erleichtert.“ Auch weil sie und ihr Mann wissen, dass am Ende alles so war, wie ihr Schwiegervater es sich gewünscht hatte. „Er konnte in Ruhe, mit Würde und schmerzfrei gehen.“ Die Garantie darauf habe man im Krankenhaus oder zu Hause nicht, im Hospiz aber schon. Ihr Schwiegervater habe immer gesagt, dass sie, ihr Mann und sein Enkel seine kleine Familie seien, das Hospiz sei seine große Familie. „Das muss man als Einrichtung erst einmal hinkriegen.“

Von Sabine Rauch

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