Kann eine Veranstaltung perfekt in die Zeit passen und gleichzeitig den Eindruck erwecken, ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein? Ja, sie kann – und es obendrein auch noch schaffen, diese Konstellation zu einem stimmigen, mehr noch: begeisternden Ganzen zusammenzufügen. Ein wenig aus der Zeit gefallen erscheint der Knabenchor Hannover, der jüngst in Bad Ems gastierte, deshalb, weil er sich in einer Gesellschaft, in der eher „Boygroups“ ganz anderer Couleur angesagt sind, ganz der anspruchsvollen geistlichen Chormusik verschrieben hat. Und perfekt in die Zeit passte sein Auftritt in der katholischen Kirche St. Martin, weil das nach einem Lied von Heinrich Schütz mit „Herr, auf dich traue ich“ betitelte Konzert knapp zwei Wochen vor Ostern naheliegenderweise die Passionszeit zum Thema hatte.
Apropos Heinrich Schütz: Der Meister des Frühbarocks, der von 1585 bis 1672 lebte, ist neben Johann Sebastian Bach derjenige Komponist, auf den der Knabenchor Hannover einen besonderen Schwerpunkt seiner Arbeit legt. So war es denn auch die Schütz-Motette „Also hat Gott die Welt geliebt“, mit der der Chor ins Geschehen einstieg – und mit der er bereits vom ersten Moment an keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass man es hier mit einem auf außergewöhnlich hohem Niveau angesiedelten Ensemble zu tun hatte. Glasklare, pointierte Stimmen, die sich gleichwohl zu einem ungemein harmonischen Chorklang zusammenfügten, dazu ein sehr sachter, nachschwingender Ausklang – das zog, man kann es nicht anders sagen, auf Anhieb in den Bann. Auch beim „Titelsong“, der Schütz-Motette „Herr, auf dich traue ich“, die sehr viel weniger durchgeistigt, dafür aber um einiges fröhlicher und lebhafter, man könnte fast sagen: quirliger anmutete, wusste der 1950 von Heinz Hennig gegründete Knabenchor vollauf zu begeistern. Moment mal: 1950 gegründet? Ja, genau: Der Chor, der seit 2002 unter der Leitung von Jörg Breiding steht, feiert gerade, dem jugendlichen Alter seiner Sänger zum Trotz, seinen 75. Geburtstag. Der Auftritt in Bad Ems war Teil einer insgesamt sieben Stationen umfassenden Jubiläums-Chorreise, unter anderem waren die Hannoveraner zwei Tage vorher in der Christuskirche in Karlsruhe und einen Tag später im Limburger Dom zu hören gewesen.
Auftritt voller Konzentration und Disziplin
Und jetzt also in St. Martin. Unmöglich, hier näher auf jeden der fast 20 zu Gehör gebrachten Programmpunkte einzugehen. Gemeinsam war ihnen indessen eines: Unabhängig davon, ob es sich nun um Paul Gerhardts „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, das „Borogoditse Devo – Ave Maria“ von Sergei Rachmaninoff oder, um nur ein drittes Beispiel zu nennen, die von einer sehr aparten Rhythmik geprägte Bach-Motette „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“ handelte – der Knabenchor bewies mit seinen sorgfältig geschulten Stimmen, seinem vollen und zugleich filigranen Chorklang, der in der hervorragenden Akustik der Kirche St. Martin ungeschmälert zur Geltung kam, zu jedem Zeitpunkt seine ganze Klasse. Nicht ohne Grund wurde der von Jörg Breiding hervorragend geleitete Chor bereits mit zahlreichen Preisen, darunter dem 1. Platz beim Deutschen Chorwettbewerb, ausgezeichnet, nicht ohne Grund ist er mit zahlreichen renommierten Instrumentalensembles wie etwa dem Amsterdam Baroque Orchestra oder den Münchner Philharmonikern zusammen aufgetreten.
In einem solchen Knabenchor, daran konnte kein Zweifel bestehen, geht es hochkonzentriert und diszipliniert zu. Und dennoch: Als die jungen Sänger auf den Stufen zum Altarraum Platz nahmen, konnte, wer weit genug vorne saß, das eine oder andere Lausbubengesicht entdecken – vermutlich mit Flausen im Kopf wie alle anderen Kinder auch. Wie, die haben im Sitzen gesungen? Nein, natürlich nicht. Aber die Sopran- und Altstimmen der Kinder und Jugendlichen hatten Pause, wenn die Tenöre und Bässe der schon etwas älteren Knaben jenseits des Stimmbruchs alleine sangen, wie es bei den „Lamentations“ des französischen Renaissance-Komponisten Antoine de Brumel der Fall war.

Besonders apart anzuhören: Bei Paul Gerhardts „Es ruht die Welt“ im Satz von Johann Sebastian Bach und Arrangement von Andreas Luca Beraldo teilte sich der Gesamtchor in drei kleinere, aus Kindern und Erwachsenen zusammengesetzte Ensembles auf, von denen jeweils eines links und rechts im vorderen Kirchenschiff sowie vorne im Altarraum Position bezog – der sich daraus ergebende Wechsel- und Rundgesang war einfach nur eines: toll.
Noch mehr Abwechslung kam durch die beiden von Jungs dargebotenen und von der Stimmbildnerin Julia Best an der Truhenorgel begleiteten Soli „Will dich die Angst betreten“ und „Mein Herz, was vor Seelenweh“ ins Geschehen hinein. Und: Bei drei Liedern, nämlich dem „Ubi caritas“ in der Version von Maurice Duruflé, Felix Mendelssohn Bartholdys „Hebe deine Augen auf“ und dem als Zugabe gesungenen „Befiehl du deine Wege“ (Text: Paul Gerhardt, Musik: Johann Sebastian Bach) bekamen die Niedersachsen stimmgewaltige Verstärkung vom Aufbauchor des Bad Emser St.-Martin-Chors, der unter der Leitung von Bezirkskantor Jan Martin Chrost steht. Der sorgte auch für den instrumentalen Part, der das Konzert vollends zur runden Sache machte. An der Sandtner-Orgel spielte Chrost Bachs expressives Jugendwerk „Präludium g-Moll“ und Mendelssohn Bartholdys teils von sehr harten Einsätzen geprägte, teils geradezu filigrane Komposition „Fantasia und Fuge“. Eine weitere höchst hörenswerte Facette in einem großartigen Konzert.
