„So etwas wie freie Samstage kennen wir nicht“, sagen Carolin und Tanja Huppertz und fügen, bevor man womöglich auf die Idee kommen könnte, Mitleid mit ihnen zu haben, schnell hinzu: „Aber daran sind wir selbst schuld.“ Schließlich brennen die beiden auch am Wochenende uneingeschränkt für ihr Projekt, dessen Ziel darin besteht, lokalgeschichtliches Wissen auf eine ziemlich innovative Art und Weise unters Volk zu bringen.
Unter der Marke www.stadt-land-erleben.de haben die „Entdecker-Profis“, wie sie sich nennen, eine Web-App entwickelt, die Smartphonenutzer mit Stand heute bundesweit auf mehr als 130 Entdeckerpfade schickt. Vom Naturschutzgebiet Alhuser Ahe in Hassel an der Weser bis zur Stadt Zittau im Landkreis Görlitz reicht die Bandbreite der von der App virtuell erschlossenen Orte aktuell. Und Bad Ems ist neuerdings mittendrin.
Startpunkt an der Keimzelle der Stadt Bad Ems
Den hiesigen Entdeckerpfad stellten Tanja und Carolin Huppertz jüngst bei einem Vor-Ort-Termin in der Kurstadt einer überwiegend aus Vertretern von Politik und Touristik bestehenden Gruppe interessierter Menschen vor. Treffpunkt für die Präsentation war die erste von insgesamt 19 Stationen des digitalen Stadtrundgangs: die Kirchgasse 15 bei der evangelischen Martinskirche, wo sich einst mit dem Dorf Ems die Keimzelle für das heutige Städtchen befand.
„Stadt-Land-Erleben ist unser Herzensprojekt“, erklärten die beiden Frauen dort und fügten hinzu: „Unser Ziel ist es, mit dieser Plattform Geschichte sichtbar zu machen und hochwertiges Wissen in den öffentlichen Raum zu tragen.“ Wobei unter dem Begriff „hochwertig“ in diesem Fall keinesfalls „elitär“ zu verstehen ist, im Gegenteil: Die App bewegt sich bewusst auf einem allgemein verständlichen und möglichst niedrigschwelligen Niveau – Letzteres auch deshalb, weil kein Login erforderlich ist, um ihre Inhalte zu nutzen.
Mit dem Smartphone den entsprechenden QR-Code, beispielsweise auf dem Flyer der von Carolin und Tanja Huppertz‘ gegründeten gemeinnützigen Organisation „Die Entdecker-Profis“, scannen oder die Internetadresse www.stadt-land-erleben.de eingeben, den gewünschten Entdeckerpfad aus einer Liste oder alternativ über einen Pin aus einer Landkarte auswählen – und schon kann’s losgehen.
Virtuell wie analog: Die Entdeckerpfade sind nicht nur, aber vor allem auch als virtuelle „Begleiter“ eines tatsächlichen Rundgangs durch Stadt, Dorf oder Naturlandschaft gedacht. Beispiel Bad Ems: Von der Kirchgasse aus kann man sich wahlweise von einer schriftlichen Wegbeschreibung oder einer Googlenavigation über Römerkastell, evangelische Martinskirche, katholische Pfarrkirche St. Martin, Russische Kirche, Quellenturm und etliche weitere Stationen bis zum Emsbach leiten lassen.
Wir möchten nicht bis ins letzte Detail gehen, sondern einen kurzen, knappen Überblick bieten.
Carolin und Tanja Huppertz
Unterwegs gibt es eine Menge Informationen, wobei Carolin und Tanja Huppertz statt auf spröde Jahreszahlen, von denen man die meisten ohnehin sofort wieder vergisst, lieber auf Themen des alltäglichen Lebens und die Darstellung von Zusammenhängen setzen. „Uns interessiert zum Beispiel, wie damals Häuser gebaut wurden und warum sie so gebaut wurden, wie sie gebaut wurden“, erklärten sie. Auch besondere Themen wie die jüdische Geschichte oder den Klimawandel greifen sie auf. Generell gilt: „Wir möchten nicht bis ins letzte Detail gehen, sondern einen kurzen, knappen Überblick bieten. Wer sich intensiver mit einem bestimmten Thema befassen möchte, kann sich darauf aufbauend beispielsweise beim örtlichen Heimatverein informieren.“
Wie sie selbst an ihre Informationen kommen, wollte eine Teilnehmerin von den beiden wissen. „Bücher wälzen, sich einlesen und im Internet recherchieren“, bekam sie als Antwort zurück. Und: „Wir legen Wert darauf, das Individuelle in den Vordergrund zu stellen.“ Denn die Geschichte, auch von Nachbarorten, sei entgegen anderslautender Meinungen niemals gleich. „Man entdeckt immer wieder etwas Neues, das gerade diesen Ort von den anderen in der Gegend unterscheidet“, betonte Carolin Huppertz. Im Rhein-Lahn-Kreis gibt es bislang außer in Bad Ems auch in Dausenau, Nassau sowie Katzenelnbogen & Klingelbach Entdeckerpfade.
Schätze des Rhein-Lahn-Kreises erkunden
Apropos Rhein-Lahn-Kreis: Dessen Chef hatte ein Grußwort vorbereitet. „Ein besonderes Highlight ist, dass diese Entdeckerpfade auch über eine deutschlandweite Plattform verfügbar sind“, so Landrat Jörg Denninghoff. „So können Interessierte von überall her die Schätze des Rhein-Lahn-Kreises erkunden. Diese Idee ergänzt wunderbar das bereits bestehende Projekt ‚Vielfalt Rhein-Lahn-Limes‘, das ebenfalls die Kultur und Geschichte unserer Region zum Leben erweckt.“
Ebenfalls bereits bestehend ist im Rhein-Lahn-Kreis das digitale Projekt Pickablue. „An den Stationen, über die es auch von Pickablue Informationen gibt, wie zum Beispiel der Russischen Kirche, verknüpfen wir unsere App damit“, sagte Tanja Huppertz. Man sehe Stadt-Land-Erleben nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu anderen Angeboten dieser Art. Das Besondere, das andere Apps nicht haben, sei allerdings das Unterhaltsame. Dazu gehören unter anderem verschiedene Spiele und Videos.
Liegt Bad Ems wirklich an der Ems?
Sicher, gänzlich frei von Schwächen und Fehlern ist Stadt-Land-Erleben nicht. Dass bei Station 14 ein völlig unversehrtes Haus der vier Türme zu sehen ist, mag man noch mit dem Zeitpunkt der Erstellung des Entdeckerpfads erklären. Aber dass Bad Ems an der Ems statt an der Lahn liegen soll, verwundert doch sehr.
Dennoch: Was ihr Ziel betrifft, Geschichte vor Ort und mit allen Sinnen erlebbar zu machen, sind Tanja Huppertz, die Pädagogin ist, und Carolin Huppertz, die beruflich aus der Wissenschaftskommunikation kommt, auf einem guten Weg. Für den sie allerdlings viel Idealismus brauchen: Das 2021 online gegangene Projekt, dessen Nutzung kostenlos und komplett frei von Werbung ist, wird ausschließlich über Spenden und Fördergelder, vor allem vonseiten der Naspa-Stiftung, finanziert. Im Fall von Bad Ems hat auch die Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft Rhein-Lahn unterstützt. „Und dazu leisten wir einen großen Eigenanteil an ehrenamtlicher Arbeit“, erklärten sie ihr Geschäftsmodell.