Koblenz/Region
Experte: Online-Plattformen schon lange unerlässlich

Koblenz/Region. Warum ist der Wahlkampf im Netz heutzutage notwendig? Wo liegen die Tücken? Und worauf sollten die Wähler achten? Dr. Michael Klemm ist seit 2006 Professor für Medienwissenschaft am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau. Unserer Zeitung beantwortet der Experte die wichtigsten Fragen.

Die Fragen stellten Mira Müller, Verena Hallermann und Sabrina Rödder

Wie wichtig ist digitaler Wahlkampf?

Klemm: Man kann sich anno 2016 nicht mehr leisten, in der heißen Phase des Wahlkampfs nicht im Netz aktiv zu sein – außerhalb von Wahlkampfzeiten sieht das oft immer noch anders aus, lässt die Präsenz im Netz stark nach. Aber immer noch entscheidet hauptsächlich der Straßen- und Fernsehwahlkampf, der mit Abstand die meisten Wähler erreicht, wie jüngst beim TV-Duell. Im Vergleich etwa zu den USA, aber auch vielen anderen Staaten sind die Follower-Zahlen von Politikern in Deutschland und noch mehr in Rheinland-Pfalz immer noch verschwindend gering.

Aufmerksamkeit erregten insbesondere einzelne Eklats wie etwa die Beleidigung von Ministerpräsidentin Dreyer durch einen Koblenzer CDU-Politiker auf Facebook, ansonsten geben Social Media eher die Begleitmusik zum klassischen Wahlkampf, insbesondere bei Landtagswahlen. Und oft sind es Landespolitiker aus der zweiten und dritten Reihe, die versuchen, über soziale Netzwerke Aufmerksamkeit zu erzielen – mit mehr oder weniger Erfolg. Wer nicht online aktiv ist, gilt tendenziell als unmodern und nicht kommunikativ oder bürgernah. Dennoch gibt es immer noch populäre Online-Abstinenzler wie Bundeskanzlerin Merkel – die Bedeutung sozialer Medien wird eher überschätzt. Für die Netzgemeinschaft mag ein nicht aktuelles Profil oder das Einstellen jeglicher Aktivitäten nach dem Wahltag ein No-Go sein, für den Großteil des Wahlvolks spielt das nicht die entscheidende Rolle.

Kann man durch Online-Wahlkampf neue Wähler generieren?

Online-Plattformen zur Information der Wähler sind schon lange unerlässlich, seien es die Parteien-Websites mit den Wahlprogrammen oder unabhängige Seiten wie der Wahl-O-Mat. Soziale Netzwerke gewinnen an Bedeutung, dienen aber insbesondere der Mobilisierung der eigenen Parteibasis und der Wählerschaft, weniger der inhaltlichen politischen Auseinandersetzung. Während des TV-Duells waren zum Beispiel besonders die Parteimitglieder auf Twitter aktiv, zur Unterstützung ihrer Kandidatin und zum Kritisieren der Gegnerin im sogenannten „Negative Campaigning“. In sozialen Netzwerken abonniert man vor allem Politiker und Parteien, deren Meinung man bereits teilt – somit dient die Kommunikation eher der Verstärkung vorhandener Präferenzen. Hauptzielgruppe der Online-Kampagnen ist die wachsende Zahl der noch Unentschlossenen oder potenziellen Nichtwähler – diese erreicht man aus den genannten Gründen aber nur bedingt über die sozialen Netzwerke.

Welche Wählergruppen erreicht man?

Wer sein Leben vor allem online organisiert, erwartet auch, über Politik online informiert zu werden. Immer wichtiger werden daher neben den klassischen Pull-Medien wie Online-Zeitungen oder Parteien-Homepages, denen man sich aktiv zuwenden muss (was gerade junge Menschen immer weniger tun), die Push-Medien, die via Smartphone zu den Wählern kommen, etwa als Facebook-Beiträge oder Tweets. Immer wichtiger werden auch neue Plattformen wie Instagram und WhatsApp, die vor allem ganz junge Menschen und Erstwähler erreichen. Mag sein, dass hier Wählergruppen kontaktiert werden können, die man ansonsten nicht (mehr) erreicht; nicht nur junge Wähler sind politikverdrossen. Eine neue Dimension haben im Zuge der Flüchtlingskrise Bürgerproteste in sozialen Netzwerken erreicht – weder Parteien noch Massenmedien wissen momentan so recht, wie sie mit dieser vielstimmigen Kritik, die man nicht einfach unter „Hass-Mails“ abtun kann, umgehen soll.

Welche Reichweite haben die sozialen Medien?

Facebook erreicht mit seinen 28 Millionen Nutzern in Deutschland potenziell eine große Menge an Wählern, Twitter verbindet dagegen gerade mal eine Million Menschen, darunter aber viele Meinungsbildner und Entscheider wie Politiker, Journalisten, Institutionen verschiedenster Art und politisch besonders Interessierte und Aktive. Daher ist die inhaltliche Auseinandersetzung via Twitter tendenziell spannender – auch wegen der pointierten Tweets. Während die Facebook-Seite oft von den Partei-Teams betreut wird, twittern Politiker in der Regel selbst, auch um direkt auf Entwicklungen reagieren oder selbst Themen setzen zu können – oft im unmittelbaren Austausch mit dem politischen Gegner und unterstützt durch Parteifreunde, die Äußerungen gezielt verbreiten. Der direkte Austausch mit dem Wähler findet trotz aller Beteuerungen online immer noch kaum statt. Für die Massenmedien werden Äußerungen in sozialen Medien hingegen zunehmend zur Quelle. Und nur, was den Sprung in die klassischen Massenmedien schafft und dort Verbreitung findet, wird wirklich wahlkampfrelevant.

Publikationen von Dr. Michael Klemm gibt es auf seiner Internetseite

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