Weitere unterhaltsame Anekdoten gepaart mit Sachinformationen zur Historie des Strafvollzugs, das verspricht Norbert Henke in der Einleitung seines zweiten Bandes seiner niedergeschriebenen Erinnerungen als Bediensteter im Strafvollzug und stellt dabei in Aussicht, „nicht nur Restposten“ aus seinem Gedächtnis aufzuwärmen, die es nicht ins erste Buch geschafft haben.
Unterhaltsame Anekdoten
Einiges, das so oder so ähnlich schon im ersten Band beschrieben wurde, begegnet dem Leser des Buches dann aber doch. Geschichten über spektakuläre Ausbrüche mittels selbst geknüpften Seilen über Gefängnisdächer, so spannend erzählt sie auch sind, damit wartete Henke bereits im ersten Band auf. Und auch die Appelle von Menschlichkeit und Respekt gegenüber den Häftlingen als Voraussetzung für eine gelingende Resozialisierung – mögen sie auch im ureigenen Interesse einer Gesellschaft sein – las man bereits im ersten Band.
Unterhaltsam sind die im zweiten Band zum Besten gegebenen Anekdoten über den Strafvollzug in der JVA Diez dennoch allemal. Zum Beispiel, wenn der Autor schildert, wie ein flüchtiger Freigänger aus seinem Versteck heraus einen Anwalt einschaltete, um gegen den Abdruck seiner Fahndungsbilder in der Presse juristisch vorzugehen.
Über Häftlinge reflektiert
Angenehm zu lesen sind jene Passagen, in denen Henke schildert, wie er mit sich selbst im Zwiegespräch ist und eigene Gedanken gegenüber den Häftlingen reflektiert. So, wenn er einen Spaziergang durch den Wald mit einer Gruppe Insassen in Vorbereitung auf das Freigängerhaus beschreibt: „Ein Durchatmen, Kontakt zur Natur, kurze Begegnungen mit in Freiheit lebenden Menschen. Eine Zäsur, die die Zeiten der Entfremdung von der Wirklichkeit unterbrach.
Die Teilnehmer der Wandergruppe hatten jeweils eine unterschiedliche Vorgeschichte. Vier Männer waren wegen Mordes verurteilt worden, andere wegen Raubes, einige wenige wegen Betruges. Es war nicht immer einfach, die Gefangenen, zu denen ich auf dem Weg durch die beschauliche Landschaft Kontakt hatte, von ihren Straftaten zu trennen. Doch wurde mir bald bewusst, dass eine Persönlichkeit viele verschiedene Facetten hat und nicht nur aus dem Anteil besteht, der ihn zum Täter gemacht hat.“
Anhand dieses Beispiels spart Henke auch nicht mit Kritik an den Entscheidungen rheinland-pfälzischer Justizminister der Vergangenheit, die die Möglichkeit des Freigangs aus dem geschlossenen Vollzug in den 90er-Jahren abgeschafft hatten – wie Henke andeutet, um sich politisch zu profilieren – trotz eines nach Meinung des Autors wichtigen Nutzens für die Resozialisierung.
Umgang mit Schuldgefühlen
Bemerkenswert ist das Kapitel über den Umgang der Vollzugsbeamten mit Schuldgefühlen und damit verbunden eine vom Autor als mangelhaft empfundene Sensibilisierung des Gefängnispersonals in Bezug auf den Umgang mit Menschen – wobei auch Verfehlungen der Anstaltsmitarbeiter zur Sprache kommen, was angesichts des Eindrucks bei Außenstehenden eines gewissen Korpsgeistes unter Vollzugsbeamten umso bemerkenswerter ist.
So schreibt Henke: „Ein Gefangener sollte in eine andere Anstalt verlegt werden. Er meldete sich bei dem Bediensteten und erklärte mit leicht zittriger Stimme, er könne nicht in das andere Gefängnis verlegt werden. Er habe Angst. Dort sei ein Gefangener, mit dem er in Freiheit wegen einer Drogensache einen massiven Konflikt gehabt habe. Dieser Mann habe großen Einfluss bei anderen Inhaftierten und sei in der Lage, über gewaltbereite Schläger zu verfügen. Der Mitarbeiter erwartete von dem Gefangenen, dass er seine Behauptungen näher konkretisierte und vor allem Namen nannte. Doch wie die meisten Inhaftierten in ähnlichen Notlagen war er hierzu nicht bereit. Er sagte: „Ich möchte keine Ratte sein. Falls das herauskommt, weil der andere eins und eins zusammenzählt, habe ich im Knast geloost.“
Der Bedienstete hatte den Eindruck, dass der Gefangene tatsächlich erhebliche Angst hatte. Er berichtete dem damaligen Anstaltsleiter von seinem Eindruck. Der Gefängnischef meinte jedoch, man solle keinesfalls nachgeben. Das Argument des Anstaltsleiters war sicherlich nicht abwegig, denn es kommt nicht selten vor, dass Häftlinge Gründe vorschieben, um nicht in eine andere Einrichtung gehen zu müssen. Der Inhaftierte wurde einige Tage später dennoch verlegt. Zwei Tage nach seiner Ankunft erhängte er sich.“
Widersprüche benannt
Auch auf Widersprüchlichkeiten im Justizvollzug weist Henke hin, beispielsweise wenn er beschreibt, wie Brotmesser nur aus speziellem Weichmetall mit abgerundeten Klingen an Gefangene ausgegeben werden, in Rheinland-Pfalz jedoch noch lange Konservendosen an Gefängnisse geliefert wurden, selbst dann noch, als sich ein Insasse mit dem rasiermesserscharfen Deckel einer Konservendose die Halsschlagader durchtrennt hatte, ein Gegenstand, den er ebenso gut zu einer Waffe hätte umfunktionieren können, um sie gegen andere einzusetzen.
Wiederum unterhaltsam ist die Geschichte eines wegen Mordes verurteilten Italieners, der aufgrund eines Rechtshilfeabkommens in ein Gefängnis in Rom überführt wurde. Dorthin war der Mörder jedoch nach einem Hafturlaub nicht zurückgekehrt, sondern stand kurze Zeit später wieder vor den Toren der JVA Diez, in die er Einlass begehrte. Offenbar hatte ihm der Knast in der Grafenstadt besser zugesagt. Da es hierfür keine passende Vorschrift gab, wurde der Mann weggeschickt. Erst als er, sekundiert von seinem früheren Anwalt und unter Verweis auf einen gegen ihn in Deutschland noch ausstehenden Haftbefehl, wiederkam, wurde dem Wunsch des Mannes entsprochen und man sperrte ihn erneut in Diez ein.
Hohe Sachkenntnis
Manchmal verliert sich Henke jedoch im Detail. Abschnitte über die Sinnhaftigkeit ansprechender Gefängnisarchitektur mögen für Beteiligte eines Planungsstabes zum Neubau einer Haftanstalt im Landesjustizministerium von Bedeutung sein, wirken jedoch in einem an breitere Bevölkerungsschichten gerichteten Sachbuch bisweilen detailverliebt.
Trotz mancher etwas ausschweifender Passagen, wie man sie so oder so ähnlich bereits im ersten Band lesen konnte, machen solche Kapitel das Buch dennoch lesenswert, verfügt der Autor doch über eine Expertise, die den meisten der potenziellen Lesern fehlen dürfte.
„Mehr aus 31 Jahren hinter Gittern. Ein ehemaliger Anstaltsleiter erzählt“ erscheint am 29. August im Omnino Verlag. Die Taschenbuchausgabe kostet 18 Euro.