30 Minuten ungefähr ist das Personal mit einer Impfung beschäftigt. Kein Vergleich zu den routinierten Grippeschutzimpfungen, von denen die Praxis „nebenbei“ gut und gern 1000 pro Winterquartal abwickelt. 400 impfwillige Patienten stehen aktuell auf der Warteliste der Praxis, und täglich kommen neue Anfragen hinzu. Die gelieferten Impfdosen können den Bedarf dabei nicht mal annähernd decken: Freitags wird die Praxis benachrichtigt, wie viele Dosen welchen Impfstoffes am Montag erwartet werden können. Exakt 18 wurden Schencking und seinem Team dabei zugeteilt; nächste Woche werden es nur noch 16 sein.
Das Wochenende hat der Arzt damit verbracht, unter den priorisierten Patienten auf der Warteliste seiner Praxis 20 besonders gefährdete Senioren und Patienten mit schwersten Vorerkrankungen herauszusuchen, die dann am Montag kontaktiert wurden. Alle nahmen das Impfangebot gern an – schließlich wartete diese Woche der begehrte Biontec-Impfstoff in der Spritze.
Ganz anders reagieren die Leute übrigens, wenn es um AstraZeneca geht, weiß Schencking, der als Ärztlicher Leiter des Impfzentrums des Rhein-Lahn-Kreises in Lahnstein so manche Diskussion darüber führen muss. „Das liegt einzig und allein an der desaströsen, verheerenden Außendarstellung des Impfstoffes“, sagt er. Kollegen zufolge treten in manchen Impfzentren 15 bis 20 Prozent der Patienten gar nicht erst zur Impfung mit Astra an. Dabei handele es sich um einen „effizienten Impfstoff“, betont Schencking. „Man muss, wie bei allen mRNA-Impfstoffen, wissen, wem und welcher Altersgruppe man es verabreicht – und welche Vorerkrankungen vorliegen.“ Ein Biontec-Lieferengpass sei praktisch vorprogrammiert.
Der erste Impfling des Tages nimmt's locker. Jürgen Maaß gehört mit seinen über 70 Jahren und Vorerkrankungen gleich doppelt zur priorisierten Gruppe, seine Frau hat ihre Impfung bereits in der vergangenen Woche erhalten. Nach dem Anruf der Praxis hat er am Montag das Infomaterial abgeholt und sich zu Hause in Ruhe durchgelesen. Geduldig harrt er nun im Wartezimmer aus, bis seine Impfdosis vorbereitet ist. Das übernimmt Dr. Christina Egenolf. Sechs Impfdosen ergibt ein Fläschchen, der Impfstoff muss sorgfältig und unter großen Sicherheitsvorkehrungen in Spezialkanülen aufgezogen, entsprechend verdünnt und zügig verabreicht werden. „Die Logistik muss minutiös stimmen“, sagt Schencking. Eine der vielen Herausforderungen an der Corona-Impfung sei der enge zeitliche Rahmen. Vor allem in den Impfzentren, wo viel mehr Menschen geimpft werden als in den Hausarztpraxen, sei dies essenziell. Auch könne der Impfstoff nicht lange im Vorfeld verwahrt werden. „Wenn der Impfstoff mit minus 70 Grad angeliefert wird, hält er sich bei unserer normalen Kühlung noch 120 Stunden.“ Fünf Tage also, bis der Stoff futsch ist. Durch die verpflichtende Priorisierung aber können die Ärzte bei Ablehnung des Impfstoffes nicht den nächstbesten Willigen impfen, sondern müssen die Warteliste abtelefonieren. „Ein unfassbarer Zeitaufwand“, sagt Schencking.
Mittlerweile liegen alle sechs Impfdosen bereit, und die Ärzte beginnen gleichzeitig mit dem Verabreichen. Dr. Schencking übernimmt Jürgen Maaß. Vor dem Piks allerdings fächert der Arzt erst mal die dazugehörigen Formulare auf seinem Schreibtisch aus.
Drei Seiten Aufklärung, die der Patient zwar schon gelesen hat, der Arzt aber trotzdem noch mal mit ihm durchgeht, ein Anamnesebogen, eine Einwilligungserklärung und noch einen Laufbogen fürs Ministerium – alles will sorgfältig beachtet und ausgefüllt sein. Weil Jürgen Maaß wie viele Senioren seines Alters Blutverdünner nimmt, wechselt Schencking die Nadel. Dünner und kürzer muss sie sein, damit keine gefährlichen Blutergüsse entstehen. Die vom Land zur Verfügung gestellten Nadeln gibt es nur in der Standardgröße. Auch das ärgert den Mediziner: „Ein Drittel der Menschen in diesem Alter bekommt aufgrund entsprechender Vorerkrankungen Blutverdünner. Dass an sowas bei der Organisation nicht gedacht wird, ist mir unbegreiflich.“
Dann legt Jürgen Maaß seinen linken Arm frei, ein Piks, und der Zauber ist vorbei. Die Injektion dauert keine zwei Sekunden. Gespürt hat er nichts. Jetzt muss alles noch sorgfältig dokumentiert, die Chargennummer aufgeklebt, die digitale Impf-Datenbank aktualisiert und der Impfpass ausgefüllt werden. Ja, der Impfpass. Im Impfzentrum wird den Patienten ein Einlegeblatt über die Impfung in die Hand gedrückt. Der Vorteil in der Arztpraxis: Der international gültige, gelbe Impfpass wird direkt mit den entsprechenden Impfdaten ausgefüllt.
Jetzt muss Jürgen Maaß nur noch eine Viertelstunde in der Praxis warten, um allergische Reaktionen auszuschließen. Denn der Mikrobestandteil des Coronavirus', der als Impfstoff für die Bildung der Antikörper im Organismus sorgen soll, ist so empfindlich und instabil, dass er in spezielle Fetttröpfchen als Trägersubstanz eingegossen werden muss. Und diese Tröpfchen können in seltenen Fällen schwere allergische Reaktionen auslösen. „Wir haben im Impfzentrum bislang etwa 22.000 Dosen verimpft und hatten nur vereinzelt weniger schwere Komplikationen“, erzählt Schencking, der begeistert ist von dem innovativen mRNA-Impfkonzept. „Die Corona-Impfung an sich ist nobelpreisverdächtig“, sagt er. „Aber die starren bürokratischen Regelungen und deren Umsetzung machen uns das Leben in der Praxis nicht leichter.“ Schließlich müssen dort vor allem kranke Menschen versorgt werden.