Begegnungen mit Schülern und zwei begeisternde Konzerte prägen Tag in Nassau
Botschafter für „El Sistema“ in Nassau: Mit Musik bauen Gäste aus Venezuela viele Brücken
Die Spielfreude von Ensemble und Dirigent springt beim ersten Stück auf die Schüler des Leifheit-Campus über.
Carlo Rosenkranz

Nassau. „Es wird ein unvergessliches Erlebnis.“ So hatte es Dirigent Thomas Clamor vor dem Besuch von 30 Musikern aus Venezuela in Nassau im Gespräch mit dieser Zeitung versprochen. Es dürfte wohl kaum jemanden unter den vielen Menschen geben, die am Dienstag mit den Südamerikanern und ihrem künstlerischen Leiter in Kontakt kamen, für den sich diese Zusage nicht erfüllt hat. Dabei geht es um weit mehr als einen gelungenen Konzertabend.

„Musik baut Brücken und verbindet die Menschen.“ Auch das sagt Thomas Clamor, diesmal kurz vor dem Abschluss des anderthalbstündigen Auftritts vor gut 170 Gästen in der Stadthalle. Genau das haben am Mittag schon mehr als 400 Schüler des Leifheit-Campus erfahren. Für sie haben der Dirigent und das Ensemble ein eigenes Programm aus eher kurzen Stücken zusammengestellt. So bleibt Zeit für die zweisprachige Moderation der Lerner aus den Spanisch-Leistungskursen. Sie erläutern in ihrer und in der Muttersprache der Gäste Hintergründe zu den Kompositionen und zu „El Sistema“, jenem landesweiten System aus Kinder- und Jugendorchestern, in dem die angereisten Musiker groß geworden sind und heute als Lehrer ihr Wissen an folgende Generationen weitergeben.

Vom Schulbuch zur Praxis

Völlig neu ist den Campus-Schülern El Sistema nicht. „Sie haben davon in ihren Spanisch-Lehrbüchern gelesen, in denen auch die sozialen Probleme Südamerikas behandelt werden“, sagt Lehrerin Patricia Salvador, die die erkrankte Kollegin Kathrin Meurer vertritt. Das 1975 von José Antonio Abreu ins Leben gerufene Projekt eröffnet Kindern und Jugendlichen einen Ausweg aus Armut und Kriminalität.

Nicht jeder wird später Berufsmusiker wie jene, die auf ihrer Tournee im deutschsprachigen Europa in Nassau Station machen. Aber alle werden nicht nur mit Kleidung, Essen und Instrumenten unterstützt, sondern werden laut Thomas Clamor sozialisiert und erfahren vielleicht zum ersten Mal im Leben Wertschätzung und Anerkennung. Beim Schulbuchwissen bleibt es jedoch nicht. An diesem Tag lernt man sich persönlich kennen.

Die nächste zwischenmenschliche Brücke schlagen die Lerner des Leifheit-Campus. Nach dem letzten Stück „Alma Llanera“, das als inoffizielle Hymne Venezuelas gilt und gern zum Abschluss geselliger Zusammenkünfte angestimmt wird, singt der ganze Saal als Überraschung den Refrain dazu. Etliche der Musiker halten den bewegenden Moment mit ihren Smartphones von der Bühne aus fest. „Diese Erinnerung werden alle hier mit zurück nach Venezuela nehmen und zu Hause davon erzählen“, ist Dirigent Thomas Clamor überzeugt.

Fürs Erzählen ist schon gleich nach dem Schulkonzert Gelegenheit. Je zwei Musiker sitzen mit den Jugendlichen, die am Leifheit-Campus Spanisch als zweite Fremdsprache lernen, beim Mittagessen zusammen am Tisch. Ob in der Landessprache der Gäste, auf Englisch, mit Gesten oder Übersetzer-Apps: Man tauscht sich eifrig miteinander aus. In der Aula geht es dann weiter. In Kleingruppen beantworten die Südamerikaner Fragen der Schüler zu allen möglichen Themen.

Die Offenheit der Gäste, die als Botschafter von El Sistema schon weite Teile der Welt bereist haben, ist in vielen Details zu erkennen. Als beim Abendkonzert Schüler des ersten Abiturjahrgangs Getränke für das Publikum anbieten, winken die mit ihren Instrumenten einziehenden Musiker den Jugendlichen, die sie vom Mittag wiedererkennen, freundschaftlich zu.

Eine besondere Erfahrung machen auch Sonja Sire und Michael vom Dorp. Die beiden Trompeter des Nassauer Orchesters Lahnsin(n)fonie dürfen beim Schulkonzert sowie bei der Zugabe am Abend mit den Profis spielen. Eine gemeinsame Probe war aus Zeitgründen nicht möglich, die beiden hatten nur die Noten im Vorfeld erhalten. Trotzdem werden sie vom Ensemble aufgenommen, „als würden wir dazugehören“, wie Sonja Sire sagt.

„Die sind alle total entspannt“, sagt Michael vom Dorp sichtlich begeistert. „Die interessiert nicht, was du kannst. Es zählt nur, ob du Bock hast, gemeinsam Musik zu machen.“ Dirigent Thomas Clamor lobt die beiden für ihren Mut, bei den Konzerten mitzumachen. Viele der Musiker drücken die beiden Lahnsin(n)foniker nach dem Schlussapplaus am Abend zum Abschied, als wäre sie alte Bekannte.

Musik bietet Trost und Hoffnung

Im an Rohstoffen reichen Venezuela, in dem Armut dennoch weit verbreitet ist, spielt die Musik eine herausragende Rolle für viele Menschen. „Sie ist für sie zum Lebensinhalt geworden“, sagt Dirigent Thomas Clamor, der seit 20 Jahren mit dem Ensemble arbeitet. „Musik bedeutet Hoffnung – in jeder Lebenssituation“, sagt Félix Mendoza Briceno. Schon als Vierjähriger spielte der Sohn eines evangelischen Pastorenehepaars Trommel, später weitere Instrumente. Mit seinen Eltern besuchte er Familien in Venezuela, die Probleme hatten. „Ich habe Gitarre für sie gespielt“, sagt er. „Die Menschen vergessen dann für einen Moment ihre Sorgen.“

Mit sieben Jahren ging Félix Mendoza Briceno zu einer Musikschule von El Sistema. Dort baute er nicht nur sein Talent aus, sondern erlebte, was Thomas Clamor damit meint, wenn er sagt, die Musik eröffne jungen Menschen in Venezuela den Weg zu einer lebenswerten Existenz. Er durfte auf nationaler Ebene vorspielen und schon als Junge in Beethovens 5. Sinfonie an die Pauke. Heute ist Félix Mendoza Briceno 39 Jahre alt und Berufsmusiker. Mit seiner Frau, einer Violinistin, und den beiden Kindern ist er vor vier Jahren ausgewandert und nach Berlin gezogen. „Keine einfache Entscheidung“, wie er sagt.

Er probt mit den Berliner Philharmonikern, deren ehemaliger Chefdirigent Claudio Abbado den Kontakt zwischen Thomas Clamor und El Sistema einst hergestellt hatte. Große Rundfunkorchester engagieren Félix Mendoza Briceno als Perkussionisten. Die Verbundenheit mit El Sistema, dem der Familienvater so viel zu verdanken hat, besteht weiter. Viele andere aus dem Ensemble sind im Heimatland geblieben und unterrichten dort. „Für mich sind das Helden“, sagt Thomas Clamor anerkennend.

Tournee-Organisatorin Zuzana Pesselová glüht am Abend förmlich vor Glück. Sie zieht zur Begrüßung der Konzertgäste eine direkte Verbindung von „El Sistema“-Gründer José Antonio Abreu zu Nassaus Ehrenbürger Günter Leifheit. Der Venezolaner habe die Kraft der Musik der Gesellschaft zur Verfügung stellen wollen, Leifheits Grundsatz sei gewesen: „Es soll den Menschen dienen.“ Pesselová ist überzeugt: „Wenn die beiden sich begegnen würden, hätten sie ihre helle Freude daran, was heute hier passiert.“

Begegnung steht im Mittelpunkt

Für die Kulturmanagerin geht es daher nicht allein um das Abendkonzert, bei dem das begeisterte Publikum mehrfach stehend und lang anhaltend applaudiert. Sie legt stets Wert darauf, dass Kinder und Jugendliche vor Ort unmittelbar eingebunden werden.

„Das war in Nassau mit dem Leifheit-Campus möglich, sonst wären wir nicht mit dem Orchester hierhergekommen“, sagt sie. Auch für Dirigent Thomas Clamor erfüllt das Ensemble seinen Auftrag nicht nur mit viel bejubelten Auftritten, sondern im Zusammenwirken mit den Menschen vor Ort. Über die Begegnungen mit den Lernern des Leifheit-Campus sagt er vor versammeltem Nassauer Publikum: „Das war großartig. Seien sie stolz auf ihre Jugend.“

Das Konzert des Venezuelan Brass Ensemble in Nassau war Bestandteil des Lahnfestivals “Gegen den Strom". Informationen dazu und über kommende Veranstaltungen gibt es im Internet unter www.festival-gegen-den-strom.de

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