Als dieser Baum in Limburg gepflanzt wird, ist ein gewisser Otto von Bismarck Reichskanzler der Deutschen, Limburg hat noch nicht einmal 6000 Einwohner, und statt Autos fahren Droschken mit Pferden durch die Straßen. Doch der rund 150 Jahre alte Baum, eine Blutbuche mitten in der Innenstadt, ist vor einigen Tagen gefällt worden. Das hat kurz vorher für viel Wirbel gesorgt: E-Mails werden geschrieben, Telefonate geführt, Politiker mischen sich ein, eine Protestkundgebung findet am Mittwochnachmittag vor dem Baum statt, ein Vorstandsmitglied der Kreissparkasse verteidigt sich dort, und ein auf Verwaltungsrecht spezialisierter Anwalt taucht energischen Schrittes auf und fordert ein zweites Baumgutachten.
Die Blutbuche steht auf einem gepflasterten Hinterhof, auf dem Autos parken, im Schatten eines großen Eckhauses, in dem eine Anwaltskanzlei ihren Sitz hat, direkt neben der Garage des Nachbarn und neben einem brachliegenden Grundstück, auf dem demnächst ein Wohn- und Geschäftshaus gebaut werden soll. Das Grundstück an der Schiede gehört der Kreissparkasse (KSK) Limburg; sie hat es an die Kanzlei vermietet.
„Einer der ältesten Bäume in der Innenstadt“
Am späten Dienstagabend, 3. Juni, verschickt der Stadtverordnete Andreas Pötz (Grüne) eine E-Mail an verschiedene Personen, in der er sich entsetzt zeigt, dass „einer der ältesten Bäume, der in der Limburger Innenstadt noch erhalten ist“, gefällt werden soll. Er spekuliert, der geplante Bau des Geschäfts- und Wohnhauses nebenan sei der wahre Grund dafür. Er ruft nicht nur zu einer Protestkundgebung am nächsten Tag auf, sondern fordert den Vorstand der KSK auf, „den Baum stehen zu lassen und die Fällung abzusagen“.

Am Mittwoch hat der Gebäudemanager der KSK, Oliver Schrangs, seinen letzten Urlaubstag. Doch er muss sich um den Baumprotest kümmern, und antwortet Pötz am Nachmittag per E-Mail. Bei einer routinemäßigen Pflegemaßnahme der Blutbuche im Februar sei „eine tiefe Hohlstelle im Stamm“ festgestellt worden, schreibt er. Daraufhin sei ein Fachbüro mit der Begutachtung des Baums beauftragt worden, um Vorschläge zu unterbreiten, wie der Baum gerettet werden könne. Die Untersuchung habe am Montag, 2. Juni, stattgefunden. „Die Untersuchungsergebnisse waren sehr schlecht“, schreibt Schrangs. „Der Stammfuß des Baumes ist sehr stark zersetzt. Die gemessenen Restwandstärken sind allesamt im hochkritischen Bereich.“ Aus Gründen der Verkehrssicherheit müsse der Baum innerhalb von vier Wochen gefällt werden.
Pötz’ Vorwurf, die Buche stehe der geplanten Bebauung im Weg, weist Schrangs in der E-Mail als „Fehlinterpretation“ entschieden zurück. Im Gegenteil, wird er auf Anfrage dieser Zeitung betonen, bei der Planung des neuen Gebäudes durch die KSK sei ausdrücklich auf den Baum Rücksicht genommen worden.
„Ich bin nicht der Kettensägen-Schrangs“
Die Kundgebung am Nachmittag wird nicht nur von mehreren Politikern der Grünen besucht, neben Pötz auch von Angelika Seip, Josef Erbach, Georg Muth und Anke Föh-Harshman aus Hadamar-Steinbach. Auch Rechtsanwältin Andrea Ortseifen protestiert gegen die geplante Fällung; von ihrem Büro aus kann sie die Blutbuche sehen. Doch als sich die Kundgebung auflösen will, taucht Oliver Schrangs zusammen mit KSK-Vorstandsmitglied Carsten Hofmann auf. Der Protest der Grünen wird offenkundig sehr ernst genommen. Schrangs erklärt erneut die Hintergründe und wird irgendwann sagen: „Ich bin nicht der Kettensägen-Schrangs.“ Die Blutbuche sei regelmäßig gepflegt worden, „weil sie uns ans Herz gewachsen ist“.
Schließlich taucht auch noch Rechtsanwalt Dirk Schoemakers auf. Der Fachanwalt für Verwaltungsrecht arbeitet in der Kanzlei und kennt den Baum, weil er auf dem Parkplatz sein Auto abstellt. Er setzt sich für den Erhalt der Blutbuche ein. Er will das Baumgutachten sehen, das aber noch nicht ausformuliert ist. Er verlangt ein zweites Baumgutachten, das aber unmöglich bis zum nächsten Tag der Fällung vorliegen kann.
So geht das eine Weile hin und her zwischen dem Juristen und den beiden Bankern, es geht um die Verkehrssicherungspflicht, darum, wer haftet, wenn der Baum plötzlich umkippt. Es wirk wie eine Gerichtsverhandlung unter einer Blutbuche, die mit einem Vergleich endet, den Schoemakers vorschlägt: Die KSK soll möglichst schnell einen neuen Baum pflanzen, spätestens bis Februar nächsten Jahres, und zwar einen größeren Baum, einen „klimaresistenten Baum“, wie seine Kollegin Andrea Ortseifen betont. Die beiden Vertreter der KSK sagen das zu. Am nächsten Morgen rücken die Baumfäller mit ihren Kettensägen an.