„Er war oft müde, hat sich nachmittags freiwillig schlafen gelegt. Mitte September ging es los, dass er sich direkt nach dem Aufstehen erbrach“, erzählt Felix‘ Mutter rückblickend. Der Kinderarzt vermutet einen Keim. Durch einen tragischen Zufall ergibt eine Stuhlprobe im Oktober tatsächlich eine Helicobacterinfektion. Felix muss zwei Wochen lang Antibiotika einnehmen. Etwa eine Woche später beginnt Nathalie Cebullas Sohn über starke Kopfschmerzen sowie Schmerzen unter den Achseln und am Po zu klagen. Zudem hat er Probleme, seinen Kopf in beide Richtungen zu drehen. Mitten in der Nacht wird der Dreijährige schreiend vor Schmerzen wach.
Nathalie Cebulla fährt mit ihrem Sohn zum kinderärztlichen Bereitschaftsdienst im Kemperhof in Koblenz. „Dort meldete man mir zurück, er mache einen fitten Eindruck, und ich solle ein Kopfschmerztagebuch führen, bei Bedarf Schmerzmittel geben.“ Nach dem Ende der Behandlung mit den Antibiotika ist jedoch keine Besserung in Sicht, auch das Erbrechen bleibt nicht aus. Cebulla sucht erneut den Kinderarzt auf. „Der Arzt vermutete, dass mein Sohn von dem vielen Erbrechen eine Muskelverspannung hatte. Daher die Kopfschmerzen.“ Er verordnet Schmerzmittel. Die Beschwerden des Kindes halten an. Ein weiterer Besuch beim kinderärztlichen Bereitschaftsdienst führt nur zur erneuten Aussage der Ärzte, das Kind sei „fit“.
Schreiend vor Schmerzen
Mitte November ist Nathalie Cebulla wieder im Kemperhof, diesmal in der Notaufnahme der Kinderklinik. Bei jeder Bodenwelle auf dem Weg zum Krankenhaus schreit das Kind auf vor Schmerzen, die die Erschütterungen des Fahrzeugs in seinem Kopf auslösen. Wieder stellt man fest, das Kind sei gesund und rät der verzweifelten Mutter, sie solle die Dosis der Schmerzmittel erhöhen. Nathalie Cebulla will sich jedoch nicht abwimmeln lassen und bittet um eine stationäre Aufnahme. Dafür gebe es keinen Grund, ist die Antwort der Ärzte.
An Telefon zusammengestaucht
Zwei Tage später meldet sich Nathalie Cebulla wieder in der Notaufnahme im Kemperhof, diesmal telefonisch. Das Ibuprofen schlägt nicht mehr an. In ihrer Verzweiflung googelt Nathalie Cebulla nun die Symptome ihres Sohnes. Ihre Vermutung, es könne sich um eine Hirnhautentzündung handeln, teilt sie dort mit. „Die haben mich an Telefon zusammengestaucht, was mir einfallen würde, nach Symptomen zu googeln. Das sei das Allerletzte, und wenn ich mich für schlauer hielte als die Ärzte, bräuchte ich gar nicht mehr anrufen.“
Der Kinderarzt untersucht das Blut des Jungen indes auf alles, was ihm einfällt: Hepatitis, Tetanus, Pfeiffersches Drüsenfieber, nichts. Eine erneute Stuhlprobe ergibt „Helicobacter negativ“. So kommt der Mediziner erneut zu dem Schluss, die Kopfschmerzen würden durch eine Verspannung ausgelöst. In der darauffolgenden Woche bemerkt Nathalie Cebulla, dass ihr Sohn Schwierigkeiten beim Laufen hat. „Er hat nur noch ganz kleine, vorsichtige Schritte gemacht, die Knie dabei nach innen verdreht und sich überall abgestützt.“ Ab dem Zeitpunkt beginnen die Schmerzen, sich in Felix‘ ganzem Körper auszubreiten. „Der Kopf, der Bauch, die Knie, die Füße, alles tat weh. „Aber immer nur phasenweise. In einem Moment hat er mit seinen Brüdern gespielt, im nächsten hat er vor Schmerzen geschrien und nichts konnte ihm helfen.“
Zu diesem Zeitpunkt ist Felix bereits wesensverändert. Er wird immer anhänglicher und in sich gekehrter. Kurze Zeit später ist der inzwischen Dreieinhalbjährige nicht mehr in der Lage, allein die Treppe hochzugehen. Der Kinderarzt überweist den Jungen zu einer Kinderrheumatologin nach Frankfurt.
Vor Entkräftung zusammengebrochen
Mittlerweile ist es Ende November und Felix beginnt, über Sehstörungen zu klagen. „An dem Tag, als ich bei der Rheumatologin anrief, war mein Sohn vor Entkräftung auf dem Weg zur Toilette zusammengebrochen. Als ich das der Rheumatologin sagte, bekam ich einen Termin für den 1. Dezember.“ In Frankfurt erzählt Cebulla der Ärztin die ganze Geschichte. „Sie holte sofort ein Ultraschallgerät.“ Noch während ein zweiter Arzt den Kopf des Kindes untersucht, veranlasst die Rheumatologin ein MRT in der Uniklinik Frankfurt. Im selben Moment erkennt der zweite Arzt im Ultraschall eine große Wasseransammlung im Kopf des Kindes, die in die Augenhöhle hineinragt und auf den Sehnerv drückt.
Schreckliche Gewissheit
In der Notaufnahme der Uniklinik Frankfurt angekommen verschlechtern sich Puls und Sauerstoffsättigung des Jungen dramatisch. Von Felix wird ein CT angefertigt. Für die Bedienung des MRT ist an dem Abend nicht schnell genug Fachpersonal vorhanden. Doch die Diagnose ist eindeutig: Felix leidet an einem Gehirntumor. Man teilt Nathalie Cebulla mit: „Ihr Sohn muss auf die Intensivstation und sofort notoperiert werden, sonst überlebt er die Nacht nicht.”
Operation mehrfach verschoben
Der Tumor drückt auf den Hirnstamm, sodass die Hirnflüssigkeit nicht mehr ablaufen kann und einen enormen Druck erzeugt. Es gelingt den Ärzten, den Druck in Felix‘ Kopf zu verringern. Er überlebt. Noch in derselben Nacht wird Felix ins künstliche Koma versetzt, damit er am nächsten Morgen erneut operiert werden kann, um den Tumor zu entfernen. Der nächste Tag ist jedoch ein Samstag und die auf Hirnoperationen spezialisierten Ärzte sind nicht verfügbar. „Am Montag hieß es, so kurz nach dem Wochenende können sich die Ärzte nicht in den Fall einarbeiten und sind nicht so gut vorbereitet, wie sie sein müssten.“ Die Operation wird auf Mittwoch verschoben. Nun ist aber ein Arzt des für die Operation vorgesehenen Teams krank. Am Donnerstag, sechs Tage nach seiner Ankunft in der Uniklinik, kann Felix ein Großteil des Tumors entfernt werden.
Nicht vonselbst geatmet
Doch im Anschluss schaffen es die Ärzte nicht, Felix wieder aus dem künstlichen Koma zu holen, denn der Dreieinhalbjährige beginnt nicht, von selbst zu atmen. Felix wird erneut operiert. Die Ärzte setzen im Kopf ein Ventil zum Abbau des Hirndrucks ein.
Seitdem bettlägerig
Als Felix Ende Dezember aus dem künstlichen Koma erwacht, sind die neurologischen Ausfälle immens. Er kann nichts mehr sehen. Auch die Fähigkeit zu sprechen hat er eingebüßt. Sich koordiniert zu bewegen oder sich von allein aufzusetzen ist ihm ebenfalls nicht mehr möglich. „Er ist seitdem bettlägerig. Das Einzige, was er mittlerweile wieder kann, ist, den Kopf selbst anheben und sich ein wenig zur Seite drehen“, sagt Nathalie Cebulla im Interview mit unserer Zeitung Ende Februar 2024.
Keine Prognose
Seit mittlerweile drei Monaten lebt sie mit ihrem Sohn in einem Einzelzimmer in der Uniklinik Frankfurt. Eine Prognose zu Felix‘ Gesundheitszustand können die Ärzte ihr nicht geben. Seit März 2024 muss Felix zumindest nicht mehr über eine Sonde ernährt werden. Inzwischen wurde mit einer Chemotherapie begonnen. „Nach der Operation hat man uns gesagt: ‚In einer Woche rennt Ihr Sohn hier wieder über die Gänge‘“, sagt Nathalie Cebulla bitter. Warum ihr Sohn erblindet ist, auf diese Frage haben die Ärzte keine Antwort. „Möglicherweise kommt dies durch die enorme Wasseransammlung, die auf den Sehnerv gedrückt hat.“
Die Schuldfrage
Die Frage drängt sich auf, ob es Felix heute besser ginge, wäre der Tumor früher entdeckt worden. Anna Maria Hannen von der Kanzlei Mahr Hannen in Düsseldorf ist Fachanwältin für Medizinrecht. Sie sagt: „Wir haben es hier mit einer Behandlungsverzögerung zu tun, die auf eine unterlassene Befunderhebung zurückzuführen ist. Das Unterlassen der erforderlichen Befunderhebung stellt grundsätzlich einen Behandlungsfehler dar. Ob und welche Befunderhebung durchzuführen ist, richtet sich nach den vorliegenden Symptomen. Wenn Kopfschmerzen, Schwindel, Gliederschmerzen und bereits neurologische Symptome wie Gehstörungen vorlagen, hätte der Kinderarzt zu einem Neurologen überweisen oder ein MRT veranlassen müssen.“
Könnte sich der Kinderarzt somit schadenersatzpflichtig gemacht haben? Laut Rechtsanwältin Hannen wäre dies der Fall, wenn der Arzt die erforderliche Befunderhebung behandlungsfehlerhaft unterlassen hat, die Erhebung der gebotenen Befunde einen reaktionspflichtigen Befund gezeigt hätte und der Behandlungsfehler zu einem gesundheitlichen Schaden geführt hat. „In Felix‘ Fall also, wenn die durch das Unterlassen der gebotenen Befunderhebung eingetretene Behandlungsverzögerung die Heilungschancen verschlechtert oder nachweislich zu weiteren Schäden an Felix‘ Gesundheit geführt hat, die bei einer früheren Entdeckung des Tumors vermieden worden wären.“
Um in Felix‘ Fall einen Behandlungsfehler nachweisen zu können, müsse jedoch zunächst medizinisch geklärt werden, ob der Kinderarzt bei den vorliegenden Symptomen genug unternommen habe, um die richtige Diagnose zu stellen. „Wenn der Arzt die erforderliche Befunderhebung unterlässt und das Unterlassen angesichts der vorliegenden Symptome bereits einen Verstoß gegen den Behandlungsstandard darstellt und sich nach Erhebung der gebotenen Befunde ein reaktionspflichtiger Befund gezeigt hätte, sodass die Verkennung des Befundes als grob behandlungsfehlerhaft zu werten wäre, so ist bereits das Unterlassen als grober Fehler zu werten“, sagt Rechtsanwältin Hannen.
Rechtliche Konsequenzen
Zur Frage rechtlicher Konsequenzen erläutert die Fachanwältin für Medizinrecht: „Hat ein Behandlungsfehler zu einem gesundheitlichen Schaden geführt, kann das zu einer zivilrechtlichen Verurteilung zur Zahlung von Schadenersatz und Schmerzensgeld sowie zu einer strafrechtlichen Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung und in besonders schwerwiegenden Fällen zum Verlust der Approbation führen.“
Die Notaufnahme sowie den kinderärztlichen Bereitschaftsdienst sieht sie hingegen weniger in der Verantwortung: „Viele Menschen wissen nicht, dass Notaufnahmen und Bereitschaftsärzte für Patienten in Lebensgefahr beziehungsweise in akuten Notfallsituationen gedacht sind. Dies muss auch bei Tumorpatienten nicht immer der Fall sein.“
Arzt schließt Behandlungsfehler aus
Dr. Steffen Ruess, Geschäftsführer des kinderärztlichen Bereitschaftsdienstes Koblenz, betont im Gespräch mit unserer Zeitung: „Es ist sehr bedauerlich, was da passiert ist. In unseren Unterlagen ist aber nur ein Besuch des Jungen beim kinderärztlichen Bereitschaftsdienst verzeichnet, nicht zwei.“ Einen Behandlungsfehler schließt er aus. „Es gibt bestimmte Triggersymptome, auf die wir in Akutsituationen reagieren. Die Symptome, die auf einen Hirntumor hätten hindeuten können, gab es im vorliegenden Fall nicht“, so Ruess. Tatsächlich seien laut Aufzeichnungen des behandelnden Arztes andere Dinge thematisiert worden.
Obwohl Nathalie Cebulla Dr. Ruess eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht ausgestellt hat und er mit uns über den Fall sprechen darf, möchte er nicht ins Detail darüber gehen, was seiner Meinung nach stattdessen „tatsächlich“ besprochen worden sei und wie der behandelnde Arzt Felix untersuchte. Ruess nimmt Bezug auf den Ärztemangel. Teilweise kämen Eltern 60 Kilometer weit zu ihm, weil sie sich vom Kinderarzt nicht kompetent genug behandelt fühlten oder nicht schnell genug einen Termin bekämen. Doch dies könne ein kinderärztlicher Bereitschaftsdienst nicht leisten. „Es tut uns sehr leid, wie die ganze Sache verlaufen ist“, so Ruess.
Formalismus klingt aus Sicht der Eltern wie Hohn
Dr. Thomas Nüßlein ist Chefarzt der Kinderklinik im Kemperhof. Auf unsere Nachfrage, wieso Felix in der Notaufnahme nicht geholfen wurde, teilt er mit: „Zur Krankenhausbehandlung kommt es üblicherweise durch Einweisung aus der Kinderarztpraxis, durch einen Notfall oder durch Überweisung in eine Spezialambulanz. Sucht eine Familie mit krankem Kind selbstständig die Notaufnahme auf, muss das Krankenhausteam klären, ob es Alarmzeichen gibt. Wenn der niedergelassene Arzt mit konkreter Fragestellung an eine spezialisierte Sprechstunde überweist, können dort umfassende Maßnahmen erfolgen. Ein solcher Formalismus muss sich aus Sicht der Eltern wie Hohn anhören, stellt aber das vorgesehene Regularium dar.“
Konfrontiert mit der Aussage der Krankenschwester, die Nathalie Cebulla riet, wenn sie sich für schlauer hielte als die Ärzte, solle sie sich nicht mehr melden, sagt Nüßlein: „Sollte der Satz so gefallen sein, kann ich mich stellvertretend nur entschuldigen. Für mich als Verantwortlichem ist es schmerzhaft, dass es auf die verständliche Sorge von Eltern für ihr Kind eine solche Antwort gab.“
“Die Mama muss wieder nach Hause"
Seit sie mit Felix im Krankenhaus wohnt, sieht Nathalie Cebulla ihre anderen beiden Kinder kaum noch, aktuell nur jedes zweite Wochenende, wenn sie sich mit dem Vater der Kinder abwechselt, der dann zu Felix ins Krankenhaus fährt. „Es passiert mir mittlerweile ganz oft, dass ich am Wochenende zu meinen beiden anderen Söhnen sage: ‚Die Mama muss jetzt wieder nach Hause fahren.‘“
Aktuell ist sie noch krankgeschrieben, doch langfristig wird sie ihrem Beruf aufgeben müssen, um bei Felix sein zu können. Die Schwester von Nathalie Cebulla hat vor wenigen Wochen – am 15. Februar, dem Welt-Kinderkrebstag – einen Spendenaufruf gestartet, um die Familie zu unterstützen. Viele Menschen haben darauf reagiert. „Die Unterstützung hat uns überwältigt und uns sprachlos gemacht“, sagt Felix‘ Mutter.
Spende für Felix
Wer für den dreijährigen Felix und seine Familie ebenfalls spenden möchte, kann das auf der Internetseite www.gofundme.com unter dem Stichwort „Hilfe für Felix – im Kampf gegen den Krebs“.