Heimat Europa Filmfestspielen gelingt die Balance zwischen Dolce Vita und harter Alltagsrealität
Zwischen süßem Leben und bitterer Realität: Zweiter Tag der Filmfestspiele in Simmern ist sehr kontrastreich
Werner Dupuis

Simmern. Hatte die Ambivalenz zwischen der Leichtigkeit des Südens sich am Eröffnungsabend zur Premiere am Freitag noch verborgen gehalten, trat sie an den folgenden beiden Tagen der Heimat Europa Filmfestspiele deutlich zutage. Kontrastreicher hätte der Samstag nicht sein können.

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Hier der „Sehnsuchtsort unseres süßen Lebens“, wie es Wolfgang Stemann vom Pro-Winzkino im Vorwort des Programmhefts formuliert hat, dort die Geschichte einer mutigen Frau, die sich gegen die Macht des Geldes zur Wehr setzt.

Nach der Eröffnung des zweiten lauen Sommerabends durch die Band I Dolci Signori mit beliebten, eingängigen Italo-Popsongs von Adriano Celentanos „Azzurro“ bis zu Umberto Tozzis „Gloria“, zu denen auf dem Fruchtmarkt ausgelassen geschwoft wurde, verfolgten die Zuschauer gebannt die Geschichte einer Hirtin, die von wahren Ereignissen inspiriert ist.

Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Der Film „Anna“ von Marco Amenta flimmerte in der italienischen Originalfassung mit deutschen Untertiteln über die große Leinwand am Fruchtmarkt. Ein Wagnis, nach der beschwingten deutschen Komödie „Zwei zu Eins“ zur Premiere, gleich am zweiten Festivalabend mit etwas „schwererer Kost“ daherzukommen, noch dazu an einem Samstagabend.

Hinzu kam das besondere Gelände des Fruchtmarkts, das je nach Position der Zuschauer das Lesen der Untertitel erschwerte beziehungsweise unmöglich machte, denn eine aufsteigende Bestuhlung wie im Kinosaal ist an dieser Stelle der Simmerner Innenstadt einfach nicht möglich. Doch trotz dieses Handicaps erwies es sich als richtig, den Film ins Programm genommen zu haben. Allein das eindrückliche Spiel der Hauptdarstellerin Rose Aste fesselte ungemein.

Der Film spielt in Sardinien, und von dort war Rose Aste auch nach Simmern angereist und stellte sich vor dem Filmstart noch den Fragen der Künstlerischen Leiterin Sabine Schultz. Die Übersetzung vom Englischen ins Deutsche hatte Programmkurator Janis Kuhnert übernommen, der diese Aufgabe souverän und locker im Stile eines Profiübersetzers meisterte. Rose Aste bekannte, es gehöre zwar für eine Schauspielerin dazu, sich mit einer Rolle zu identifizieren, doch als eine Frau, die aus Sardinien stammt, eine sardische Protagonistin darstellen zu können, habe dem Ganzen noch ein Stück mehr Intensität verliehen. Zudem sei es ihr entgegengekommen, dass sie diese starke Frauenrolle spielen durfte, die so weit weg aller Rollenklischees angesiedelt ist.

Figur “Anna„ ist omnipräsent

Die Omnipräsenz der Figur von „Anna“, die nahezu in jeder Szene zu sehen ist, sei sicher beim Dreh eine Herausforderung gewesen, meinte Sabine Schultz. Dem pflichtete die Schauspielerin bei und nannte noch einen weiteren Aspekt, der am Set nicht leicht zu bewältigen gewesen sei. Im Oktober sei es auf Sardinien immer noch sommerlich heiß, was die Dreharbeiten auch zu einer physischen Herausforderung gemacht habe, bekannte Rose Aste.

Sommerliche Temperaturen bei den Freiluftaufführungen der Filmfestspiele sind natürlich mehr als willkommen. Aber auch im Kinosaal wurde es den Zuschauern beim Klassiker „Cinema Paradiso“ schon am Nachmittag warm ums Herz.

Urs Spörri hatte übrigens den dreiminütigen Vorfilm „Italia Anno Pandemico“ dem Simmerner Publikum präsentiert. Auch hier zeigte sich wieder der Kontrast zwischen fröhlicher Leichtigkeit und tiefer Ernsthaftigkeit – Kinoparadies im sommerlichen Italien und der bittere Corona-Herbst 2020. Spörri, der leidenschaftliche Filmwissenschaftler und -experte, der nach seinem Mitwirken bei den früheren Filmfestspielen in Simmern nach wie vor gern in Simmern zu Gast ist, wie er bekannte, hatte sich in Simmern erstmals auch als Filmschaffender präsentiert.

Mit Matinee begonnen

Begonnen hatte das Samstagsprogramm schon mit einer Matinee. Das Duo Flügel & Horn sorgte für die musikalische Einstimmung. Ralf „Mosch“ Himmler wartete mit einem Alphorn auf, schließlich stand ein Film aus der Schweiz über die Schweizer Künstlerdynastie „Die Giacomettis“ auf dem Programm. Die wunderbaren Naturtöne des Alphorns unterlegte Pianist Wolf Dobberthin dezent mit einem leichten Bossanova-Groove, Mosch wechselte vom Alphorn zum Tenorhorn und ließ wunderbare Improvisationen aus seinem Blasinstrument perlen. „Es wurde geweint und gelacht“, brachte es ein Zuschauer nach der Matinee auf den Punkt.

Der Sonntag stand dann ganz im Zeichen von Edgar Reitz. Um 11 Uhr wurde „Making of Heimat“ gezeigt. Hier konnten die Zuschauer einen Eindruck davon gewinnen, mit welchen Problemen der Filmemacher im Rahmen der Entstehung von „Die andere Heimat“ konfrontiert war, wie er um die Gestaltung jeder einzelnen Szene gerungen hat, wie schwer er es sich selbst machte, Haupt- und Nebendarsteller zu besetzen – und nicht zuletzt, mit welch unwürdiger Diskussion sich der Regisseur konfrontiert sah, bevor die Dreharbeiten überhaupt beginnen konnten. Den Einwohnern in Gehlweiler ihre Vorbehalte gegen das Lahmlegen des Dorflebens zu nehmen, hatte sich als gar nicht einfach gestaltet. Letztendlich konnten aber alle Bedenken zerstreut werden. Das Dorf befand sich schließlich „nur“ vom 17. April bis 10. August im Ausnahmezustand und nicht wie zunächst kolportiert für ein ganzes Jahr.

Stolz darauf, “Schabbach" gewesen zu sein

Und heute ist man in Gehlweiler stolz darauf, „Schabbach“ gewesen zu sein, an vielen Stellen im Dorf wird an die Entstehung von „Die andere Heimat“ erinnert. Regelmäßig finden Führungen zu den einzelnen Drehorten statt. Und wer die Dokumentation über die Dreharbeiten gesehen hat, bekam gleich Lust darauf, den kompletten Film noch einmal in voller Länge anzuschauen, der lief dann am Sonntagabend ab 18 Uhr. Am Nachmittag gab es noch den neuesten Film des 91-jährigen Regisseurs „Filmstunde_23“ zu sehen, ein – wie könnte es anders sein – Plädoyer für das Kino als Lebenselixier.

Von Thomas Torkler

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