„Totentanz“ von Carsten Braun
So erlebt der Gemündener Komponist seine Uraufführung
Für den Gemündener Komponisten Carsten Braun erfüllt sich ein Traum: Das Collegium Musicum der Goethe-Universität in Frankfurt (hier bei der Generalprobe) führt seine Vertonung der Goetheschen Ballade "Totentanz" auf. Zum ersten und zum letzten Mal.
Markus Kilian

Mehr als vier Jahre hat der 46-Jährige darauf hingefiebert, seine Vertonung der Goethe-Ballade in voller Besetzung hören zu können. Mehr als 200 Musiker erfüllten ihm nun diesen Traum – und bescherten dem Musiklehrer einen ganz besonderen Abend.

„Auf diesen Tag habe ich viereinhalb Jahre gewartet“, sagt Carsten Braun und blickt erwartungsvoll auf die Musiker vor ihm. Es ist ein kalter Februartag im Casino-Festsaal der Goethe-Universität Frankfurt am Main, es ist der Tag der Uraufführung des „Totentanz“, den Braun komponiert hat. Rund 20 Minuten lang erzählen darin mehr als 30 musikalische Stimmen Goethes Ballade von 1813. An diesem Tag das erste und das letzte Mal.

Braun wirkt während der Generalprobe angespannt und zugleich hocherfreut. „Ich bin nervös, aber das ist normal. Ich hatte bei so etwas schon weitaus schlimmere Gefühlslagen.“ Für den Gemündener ist es ein großer Tag, für das Stück eine große Besetzung. Der gemischte Chor und das Orchester des Collegium Musicum der Hochschule zählen zusammen mehr als 200 Menschen, zudem hat Braun eine Rockgruppe in sein Arrangement eingewoben.

Mehr als 200 Musiker wirken bei der Urafführung des "Totantanz" mit.
Markus Kilian

„Die Band hat sich in zwei Proben erstaunlich gut eingefügt. Das Verhältnis zwischen Orchester und Band war top – von Anfang an.“ Erst zwei Tage vor der Uraufführung trafen alle Mitwirkenden aufeinander – davon ist bei der Generalprobe kaum etwas zu hören. Immer wieder schallen da dieselben paar Takte durch den Raum. „Es gibt kritische Stellen, aber auch ganze Passagen, die reibungslos ablaufen werden. Da bin ich mir sicher“, erläutert Braun optimistisch.

„Auf diesen Tag habe ich viereinhalb Jahre gewartet.“
Komponist Carsten Braun

Ein Semester lang haben Chor und Orchester das Stück eingeübt – nur für diesen einen Tag, diesen Abend, diese 20 Minuten. Dann muss alles sitzen, dafür will Jan Schumacher sorgen. Der Universitätsmusikdirektor führt die musizierende Menge auch bei den letzten Übungen mit erhobenem Dirigentenstab durch die Partitur, gibt den Einsatz, bricht den Durchlauf dann wieder ab. „Das muss gleich klappen“, ruft er in die Menge und mahnt lächelnd: „Nicht schneller werden.“

Universitätsmusikdirektor Jan Schumacher führt Orchester, Chor und Band sicher durch die Partitur.
Markus Kilian

Carsten Braun hört sich die Generalprobe in der Mitte des Konzertsaals an, wo er auch bei der Aufführung sitzen wird. „Hier ist die Akustik am besten“, ist er sich sicher. Er wippt mit dem Fuß, sein Blick gleitet über die Musiker, seine Augen glänzen, als er sein Werk in voller Besetzung hört. Fünf Monate hat er an diesen insgesamt 666 Takten geschrieben, die eigentlich schon im Sommersemester 2020 zu klangvoller Musik werden sollten. Dann kam Corona.

Davon handelt Goethes „Totentanz“

Die 1813 veröffentlichte Ballade „Totentanz“ von Johann Wolfgang von Goethe erzählt von einem Türmer, der um Mitternacht beobachtet, wie sich die Gräber des Friedhofs plötzlich heben, die Toten heraussteigen und sich zum gemeinsamen Tanzen versammeln. Dabei stören sie die Laken, die sie im Grabe umgeben, also legen sie ihre Hemden ab. Der Türmer schleicht kurzerhand zu den tanzenden Toten, stiehlt eines der Laken und flüchtet unbemerkt zurück in den Kirchturm. Am Ende des Tanzes sucht ein Skelett sein Laken, vermutet es beim Türmer und klettert den Kirchturm hoch. Fast angekommen, schlägt es 1 Uhr, was das Ende der Geisterstunde bedeutet. Und das Skelett fällt und zerschellt auf dem Boden.

„Das ist eher gut: Ich hatte Zeit, das Stück sacken zu lassen“, sieht Braun einen Vorteil und gesteht: „Ich dachte zwischendurch auch mal: Es wäre besser, wir machen es nicht.“ Da hatte jedoch der musikalische Leiter Schumacher etwas dagegen, er hatte ihn schließlich mit der Komposition für das Konzert des Collegium Musicum beauftragt.

„Hier zahle ich drauf. Aber das ist es wert. Man kriegt ein symbolisches Honorar.“ Der Eintritt zum Konzert ist kostenfrei. „Es gibt einfach Dinge, für die man lebt, aber von denen man nicht leben kann.“
Komponist Carsten Braun

Finanziell lohnt sich die Aufführung für Braun allerdings nicht. „Hier zahle ich drauf. Aber das ist es wert. Man kriegt ein symbolisches Honorar.“ Der Eintritt zum Konzert ist kostenfrei. „Es gibt einfach Dinge, für die man lebt, aber von denen man nicht leben kann.“ Wenn der Gemündener nicht gerade komponiert, unterrichtet er Musik und Geschichte in der IGS Kastellaun.

Angefangen, selbst Noten zu setzen, hat Braun vor etwa 25 Jahren, wie der heute 47-Jährige erzählt. Damals hatte er gerade mit seinem Studium der Schulmusik begonnen. Seine Kompositionen macht er in seiner Freizeit, „oder wenn ich an der Schule mal eine Freistunde habe“. Braun hat schon mehrere Werke unterschiedlicher Stile komponiert und aufführen lassen, darunter Musicals für die Schinderhannes-Festspiele Simmern und die Burgfestspiele Mayen.

Volle Konzentration herrscht beim "Collegium Musicum", auch bei den insgesamt 47 Streichern.
Markus Kilian

Doch wie schreibt man ein Stück für mehr als 30 Stimmen? „Wenn ich Noten sehe, dann höre ich sie. Bestimmte Akkordfolgen oder Skalenabläufe hat man schon oft gehört. Am Anfang ist es wie eine Bleistiftzeichnung. Das Arrangement ist dann die Farbe.“ Chorsinfonik und Rockmusik sollen im „Totentanz“ gleichberechtigt verwoben sein, und es sei wichtig, dass die Stimmen individuelle Passagen hätten. „Dann erhält das Werk ein Relief“, erzählt Braun kurz nach der Generalprobe.

Da ist er gerade auf dem Weg ins Präsidiumsgebäude der Universität, wo gleich eine Einführung in die Werke des Konzertabends stattfinden soll. Neben dem „Totentanz“ werden die Stücke „Inside ... Out“ des Fuldaer Komponisten Michael Quell sowie das Konzert für Bratsche und Orchester des verstorbenen Komponisten Heinz Werner Zimmermann zu Gehör gebracht.

So sieht das Cover der 75-seitigen Partitur von Carsten Braun aus.
Ernst Barlach/Carsten Braun. Carsten Braun

Punkt 18 Uhr. Zusammen mit Quell sitzt Carsten Braun in einer kleinen Sitzrunde, moderiert wird sie von zwei Musikwissenschaftsstudenten. Etwas verspätet trudeln einige Interessierte ein, die aufmerksam vernehmen, wie der Gemündener sein Stück als eine Mischung aus klassischer und populärer Musik beschreibt. Klassik, die Musik für den Intellekt; Rock, die Musik für den Bauch, wie er es beschreibt. „Es sind zwei Welten: Die eine versteckt man schamvoll vor der anderen“, sagt Braun mit einem Grinsen.

Auch von Sinfonischer Dichtung, Perspektivwechseln und einer Komposition „eher wie eine Buchverfilmung“ ist neben musikwissenschaftlichen Analysen die Rede. Dass das Werk 20 Minuten dauert, ist derweil kein Zufall: So viel Musik hätte früher auf eine (Rock-)Schallplatte gepasst. Fast eine Dreiviertelstunde dagegen dauert die Einführung; gleich soll die Uraufführung beginnen. „Das Gespräch tat mir gut“, gibt Braun auf dem Weg zurück in den Saal zu Protokoll. „So habe ich mich weniger mit meiner inneren Anspannung beschäftigt.“

„Wenn ich Noten sehe, dann höre ich sie. Bestimmte Akkordfolgen oder Skalenabläufe hat man schon oft gehört. Am Anfang ist es wie eine Bleistiftzeichnung. Das Arrangement ist dann die Farbe.“

Dann geht es los. Das Orchester präsentiert das erste, leicht getragene Motiv in den Streichern, bevor es in die Holzbläser wandert, wenig später setzt das Schlagzeug mit einem fortlaufenden Rhythmus ein. Schon die ersten Klänge der Ouvertüre im 7/8-Takt klingen filmisch, beinhalten motivische Vorboten auf das, was noch kommt. Dann schlägt es Mitternacht. Die Trommeln peitschen das Orchester voran, die Vokalstimmen erwachen und werfen sich nun die Einsätze zu.

Es ist ein vielschichtiger, ausgetüftelter Klang, der bis zur letzten Stuhlreihe wabert. Rund 1000 Zuhörer füllen den Saal bis auf den letzten Sitzplatz, an den Wänden stehen weitere Besucher. Die Spannung ist zu spüren: die zwischen Orchester und Rockband, zwischen Klassik und Rockmusik, zwischen Leben und Tod – ganz im Sinne der lyrischen Vorlage.

Carsten Braun während der Generalprobe: "Ich bin nervös, aber das ist normal. Ich hatte bei so etwas schon weitaus schlimmere Gefühlslagen."
Markus Kilian

Denn dem eigentlichen Totentanz der Skelette gibt Braun viel Raum, viel mehr als in der Goetheschen Ballade. Chor, Orchester und Band geben sich ihm ganz hin, erst später wird die Instrumentierung dünner, was das nahende Ende des Spektakels beendet. Nun ziehen hypnotische Wiederholungen eines Gitarrenmotivs die Hörer in den Bann, und die Gesangsmelodie steigt zu unerwarteten Höhen auf – bis der 1-Uhr-Gongschlag das Geschehen abrupt beendet.

Am Ende erschallt minutenlanger Applaus. Komponist Carsten Braun klatscht kräftig mit. Er steht auf, lächelt über das ganze Gesicht, schreitet zu Dirigent Schumacher, die beiden umarmen sich. Die Uraufführung ist gelungen, wurde vollständig auf Video für YouTube festgehalten. Das Warten hat sich offenbar gelohnt.

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