Einrichtung zieht Bilanz 2024
Lebensberatung Simmern: Junge Familien sind überlastet
Das Team der Lebensberatung Simmern steht Menschen, die Rat und Hilfe suchen, zur Seite (von links): Rainer Liesenfeld, Beate Dahmen, Sonja Ströher-Beitz, Sandra Herbert, Dagmar Reichel, Michael Hammes und Monika Neiß.
Jana Ströher

984 Menschen nutzten das Angebot der Lebensberatung Simmern im Jahr 2024. Besonders bei den Kindern und Jugendlichen macht sich bemerkbar: Familien sind immer häufiger erschöpft und überlastet. Warum? Auch dieser Frage geht das Team auf den Grund.

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Durchschnittlich 1000 Personen suchen jährlich bei Fachstellen wie der Lebensberatung in Simmern Rat und Hilfe. Mit 984 im Jahr 2024 liegt die Simmerner Einrichtung also im Durchschnitt, wie ihre Jahresbilanz deutlich macht. „Darüber hinaus erreichten wir 573 Menschen über Kurse, Gruppen- oder präventive Angebote“, sagt Beate Dahmen. Die Leiterin der Lebensberatung stellt fest: Die Beratungsanlässe sind seit Jahren die gleichen. Und einer der Hauptgründe sei Erschöpfung und Überlastung – gerade bei jungen Familien.

Ein akuter Trend für die Hilfesuche zeichne sich also nicht ab, stellt Dahmen fest. Gerade bei den Kindern und Jugendlichen – 345 Personen im Alter von 0 bis 18 Jahren nutzten das Angebot in Simmern – verfestige sich seit Jahren, dass sie vor allem unter Trennung/Scheidung der Eltern und den einhergehenden Umgangs- und Sorgerechtsstreitigkeiten leiden, unter Partnerschaftskonflikten, Erschöpfung und Überlastung der Eltern. Weitere Punkte sind psychische Erkrankungen eines Elternteils oder Konflikte in der Herkunftsfamilie. „Das zeigt: Es ist eigentlich nicht das Kind, das ein Problem hat, sondern es herrscht eine Überforderung des Familiensystems“, sagt Dahmen.

„Es ist eigentlich nicht das Kind, das ein Problem hat, sondern es herrscht eine Überforderung des Familiensystems.“
Beate Dahmen

Doch warum sind junge Familien heute so überlastet? Warum brauchen Eltern häufig Suchtstoffe zur Entspannung? Was belastet sie so sehr? Das sind Fragen, denen Dahmen und ihr Team nachgehen. „Kaum kommt ein Kind zur Welt, muss schon ein Kitaplatz gefunden werden“, sagt sie. Die Mutter will schnell wieder arbeiten gehen, da muss die Betreuung gesichert sein. „Es bleibt kaum Zeit, das Baby zu genießen, dabei sind die Entwicklungsschritte gerade im ersten Lebensjahr rasant“, sagt Dahmen. „Viele haben auch den wirtschaftlichen Druck, sie wollen vielleicht nicht schnell wieder arbeiten, müssen es aber“, ergänzt ihre Kollegin Eva Glocker. Dabei sei das Elternwerden eine Herausforderung, eigene Bedürfnisse etwa müssten hintangestellt und das Leben auf das neue Familienmitglied abgestimmt werden. Hinzu komme: Es bleibe zu wenig Raum für einen selbstbestimmten Zeitplan bei Wiedereintritt in den Beruf und das Abgeben des Kindes in die Fremdbetreuung. Der Termin stehe, ob Eltern und/oder Kind dann dazu bereit seien oder nicht.

Es herrscht Perfektionismus bei den Eltern

Es gebe auch häufig eine allgemeine Verunsicherung: „Die Eltern wollen alles hundertprozentig richtig machen“, ist Dahmen sich sicher. „Es herrscht ein gewisser Perfektionismus, gerade junge Eltern haben häufig den Anspruch, möglichst perfekt zu sein“, stellt auch Rainer Liesenfeld fest. Die Beziehungs- und Paarpflege falle da häufig hinten runter, „Paare sind zu sehr im Außen“, ist er sicher. Insgesamt sei zu beobachten, dass den Familien nicht nur weniger Zeit für Beziehung, sondern auch für Erziehung bleibe. „Es gibt nur noch wenig Qualitätszeit, die mit schönen Dingen und ohne Konflikte genutzt wird“, sagt Dahmen. Gemeinsame Zeit verschiebe sich aufs Wochenende, Konflikte würden dann ausgetragen, wenn sich Kinder und Eltern eigentlich von ihrem Alltag erholen müssten.

Rekord bei Verdachtsfällen

Im Rahmen eines von der Kreisverwaltung finanzierten Zusatzprojekts für die Kindertagesstätten berät die Einrichtung auch beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. In 50 Fällen hatten sich Kita-Mitarbeiter für eine anonyme Fallberatung durch eine qualifizierte Kinderschutz-Fachkraft an der Lebensberatung gewandt. „Das ist Rekord“, sagt Beate Dahmen. Sie führt das auch auf die inzwischen intensivere Arbeit mit den Kitas zurück. 

Viel Kritik erhielten junge Eltern auch, wenn sie mit „früher“ verglichen würden. „Es wird aufgezählt, was Kinder früher alles konnten und heute nicht mehr können“, kritisiert Dahmen. Dabei sollte geschaut werden, welche anderen, neuen Möglichkeiten Familien heute hätten oder eben nicht mehr haben, was die Anforderungen heute sind. „Es ärgert mich, dass viele Menschen jungen Familien heute generell eine Inkompetenz zusprechen“, sagt sie. Es gelte, einen anderen Blick auf Familie zu werfen: „Was ist Familie heute? Was leisten Familien? Wollen wir weiter an der Schraube drehen, Frauen die Möglichkeit zu geben, mehr und ganztags zu arbeiten? Wenn die Frau das will, natürlich, aber muss das der Druck sein?“, fragt Dahmen etwa. „Familien brechen ein und schaffen es bei all dem Druck kaum noch allein, Kinder großzuziehen“, ist sie sicher.

Weitere Herausforderungen seien etwa ein fehlendes konstant verfügbares soziales Netz, wie es Dörfer früher noch bieten konnten. Auch Kitas seien heute mehr gefordert: Während Kinder früher sauber, trocken und emotional gefestigter in die Einrichtung kamen, hätten sie heute einen höheren Bedarf an emotionaler Zuwendung und befänden sich noch mitten in der Bindungsphase. Kitas müssten mehr Basisaufgaben in der kindlichen Entwicklung, in der Beziehungs- und der Erziehungsarbeit übernehmen. Hierfür fehlten jedoch häufig personelle Ressourcen, in der Folge müssten etwa Betreuungszeiten verkürzt werden. Für Eltern, die nicht flexibel sind, würde das zum weiteren großen Stressfaktor.

„Und manche Prozesse müssen eben trotz des Alltags gegangen werden.“
Beate Dahmen

All diese Faktoren spiegelten sich auch in den Beratungsgründen der Erwachsenen wider, die sich an die Lebensberatung wenden. Die Belastung durch kritische Ereignisse (Verlust, Tod), durch dysfunktionale Interaktion (etwa destruktiver Streit ohne Lösungen), durch traumatische Erlebnisse, das familiäre Umfeld oder durch Erkrankungen oder Behinderungen seien die häufigsten Gründe für die Beratungen gewesen. „Da die psychotherapeutischen und medizinischen Systeme so überlastet sind, verweisen diese häufig erst an uns“, sagt Dahmen. So solle der Zeitraum bis zur eigentlichen Therapie überbrückt werden. „Sechs Monate Wartezeit im sozialpädiatrischen Bereich ist da schon wenig“, ergänzt Liesenfeld. So gebe es Klienten, deren medizinische Indikation bei der Lebensberatung eigentlich nicht behandelt werden dürfte. „Aber wir können zumindest etwas Stabilität geben“, sagt er.

Durchschnittlich kämen Klienten 5,35 Stunden zur Beratung. Dabei habe sich die Erwartungshaltung der Klienten in den vergangenen Jahren verändert. „Heute erwarten sie eher eine schnelle und lösungsorientierte Beratung“, sagt Dahmen. Das Verständnis für Prozesse sei etwas verloren gegangen, dabei finde Entwicklung ein Leben lang statt. So gebe das Team gern Impulse, die den Dreh im Kopf bringen. „Und manche Prozesse müssen eben trotz des Alltags gegangen werden“, sagt Dahmen.

Beratung auch in Boppard möglich

Menschen, die bei der Lebensberatung Rat suchen, können neben der Beratung in Simmern auch die Außenstelle in Boppard besuchen. 42 Personen nutzten diese im Jahr 2024, Tendenz steigend. 

Die Angebote sind kostenfrei, doch trotzdem ist „guter Rat teuer“, wie die Lebensberatung erklärt: Die Gesamtkosten beliefen sich im Jahr 2024 auf etwas mehr als 428.400 Euro. 49 Prozent dieser Kosten trägt das Bistum Trier, 32,6 Prozent der Rhein-Hunsrück-Kreis und 18,4 Prozent das Land Rheinland-Pfalz.

Weitere Infos gibt es unter www.simmern.lebensberatung.info

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