Der Ursprung der über Bacharach gelegenen Ruine der Wernerkapelle geht auf ein furchtbares Kapitel rheinischer Lokalgeschichte zurück, deren Auswirkungen bis ins benachbarte Ausland ausstrahlten: 1287 wurde bei Bacharach die grässlich zugerichtete Leiche eines Jungen gefunden, der aus Womrath im Hunsrück stammte und in Oberwesel bei Winzern lebte und dort arbeitete. Die nie aufgeklärte Tat schob man Juden aus dem benachbarten Oberwesel in die Schuhe. Eine Magd sagte aus, sie habe durch einen Mauerritz gesehen, wie Juden in einem Keller an diesem Knaben einen grausamen Ritualmord ausgeübt hätten. Daraufhin kam es in vielen Ortschaften an Rhein, Mosel und auf dem Hunsrück zu einer Welle von Pogromen. Allein in Boppard und Oberwesel wurden dabei 40 Juden erschlagen.
In der Werner-Kapelle in Bacharach wurde die Leiche des Jungen bestattet. Um den „guten Werner“, wie er im Volksmund genannt wurde, der übrigens von der offiziellen katholischen Kirche nie den Status eines Heiligen erhielt, entstand in den folgenden Jahrhunderten ein Kult, der erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Jahr 1963 offiziell ein Ende fand. In Oberwesel versank erst 1970 ein Sandsteinrelief von der Außenwand der Hospitalskapelle, das den vermeintlichen Mord darstellte, in der Versenkung. Bis Anfang der 1970er-Jahre zog am „Wernertag“, am 19. April, noch eine Prozession quer durch die Stadt.
Im Stile einer Reportage
Im Stile einer Reportage begibt sich Karbach als Autor auf die Spuren des Werner-Kults. Er beschreibt, wie aus religiösen, politischen und auch wirtschaftlichen Motiven zum vorhandenen historischen Kern im Lauf der Zeit immer mehr hinzugedichtet wurde. Er studierte dafür Chroniken, Akten aus diversen staatlichen und oft nur schwer zugänglichen kirchlichen Archiven, vom 13. Jahrhundert bis zur Neuzeit, er bediente sich an Legenden und Überlieferungen.
Der Autor beschreibt, wie Bacharach zum Zentrum des Werner-Kults wurde, davon wirtschaftlich profitierte und in Oberwesel der „gute Werner“ im Volksglauben immer tiefer verankert wurde. Eine Martersäule – zurzeit im Hunsrück-Museum in der Ausstellung zum Landjudentum ausgestellt – und das Sandsteinrelief an der Außenwand der ehemaligen Werner-Kapelle in Oberwesel (die heutige Mutter-Rosa-Kapelle) sind eindeutiges Indiz dafür.
Karbach geht mit seinen Lesern auf einen Exkurs zur Geschichte der Weseler Juden und ihrer Feinde. Er reist mit ihnen nach Womrath, besucht die dortige Werner-Kapelle und fährt dann weiter nach Frankreich, wo sich der Werner-Kult bis heute erhalten hat. Auf diesen Touren entdeckt der Autor Zähne und Gebeine, die alle vom Heiligen Werner stammen sollen. Im französischen Lille, in Brüssel und Antwerpen findet er von kleinen Devotionalien bis zum großen Kirchenfenster ein umfangreiches Sammelsurium, das dem Werner-Kult entstammt.
Plädoyer für die Toleranz
Im letzten Kapitel seines umfangreichen, mit vielen Fotos und Abbildungen versehenen sowie ausgesprochen lesenswerten Buches, das immer wieder auch einen Gang durch die Kulturgeschichte des Mittelrheins beinhaltet, fordert Karbach dazu auf, alle noch vorhandenen Darstellungen des vermeintlichen Heiligen aus sakralen Räumen zu entfernen oder sie angemessen zu kommentieren. Für Oberwesel wünscht sich Karbach ein Dokumentationszentrum, das zugleich auch als Mahn- und Gedenkstätte dient. Dieser Ort sollte allen Besuchern die Möglichkeit geben, den Märtyrerkult zu durchschauen, der Ritualmordlüge zu widersprechen und jeder Form von Antisemitismus, Intoleranz und Rassismus entschieden die Stirne zu bieten.
Walter Karbachs „Werner von Oberwesel: Ritualmordlüge und Märtyrerkult“, 616 Seiten mit 89 meist farbigen Abbildungen, kostet 45 Euro im Buchhandel. E-Mail-Kontakt: verlag.josef.karbach.nachf@t-online.de