Wie lange er in Deutschland bleiben wird, weiß er noch nicht. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich zurückkehren kann. Ich habe ein Flugticket für September. Ich weiß heute nicht, ob es so früh möglich sein wird, denn während Corona noch wütet, zurückzukehren, wäre sinnlos“, erklärt Kämpchen, als er sich mit dem Europaabgeordneten Norbert Neuser, den er seit Schulzeiten kennt, am Bopparder Rheinufer trifft. Neuser hat vor zwei Jahren die Stiftung „Kick for help“ gegründet, die Kämpchens Arbeit in Indien unterstützt. Kämpchen ist Gründungsmitglied des Fördervereins Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati (www.dorfentwicklung-indien.de) in Westbengalen und seit 2009 Ehrenmitglied.
Ende März gab es eine Order der indischen Regierung, dass alle Schulen geschlossen werden müssen. Alle Versammlungen wurden abgesagt, das Fußballprogramm in Kooperation mit der Stiftung „Kick for help“ pausiert seitdem ebenfalls. So schnell wie möglich bemühte sich Kämpchen um einen Rückflug nach Deutschland. „Von einem Tag auf den anderen gab es keine Linienflüge mehr. Wir haben alle auf dem Trockenen gesessen und konnten nichts machen“, berichtet der 71-Jährige. Das deutsche Generalkonsulat organisierte Evakuierungsflüge von Kalkutta über Delhi nach Frankfurt mit einem Flugzeug der Air India. Kämpchen und viele andere EU-Staatsbürger nutzen diese letzte Möglichkeit, um nach Deutschland zurückzukehren.
Keine Züge, keine Busse, keine Taxis verkehren während dem Lockdown in Indien. Kämpchen und vier weitere Personen müssen auf jeden Fall den Evakuierungsflug erreichen. Nur wie? Jedes Auto wird von der Polizei angehalten. Aggressiv geht die Polizei mit Schlagstöcken vor. „Niemand war bereit, uns von Santiniketan zum Flughafenhotel zu fahren. Es war absolut unmöglich, von A nach B zu kommen. Ein Taxifahrer nahm seinen Mut zusammen und fuhr uns morgens um 4 Uhr, als die Polizei noch schlief, in einer Nacht- und Nebelaktion zum Flughafen. Wir hatten Angst. Wir haben drei Tage am Flughafen auf unseren von der Bundesregierung organisierten Evakuierungsflug gewartet, bis wir endlich abfliegen konnten“, berichtet Kämpchen. Der Flug selbst war für Kämpchen und seine Begleiter ebenfalls ungewöhnlich. Das Personal an Bord des Flugzeugs trug Mund-Nasen-Schutzmasken und einen Schutzanzug, um sich möglichst vor eine Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen. In Boppard angekommen, musste sich Kämpchen erst mal von den Erlebnissen erholen, die ihn gesundheitlich sehr angestrengt haben.
„Die Tour ist unter normalen Umständen schon eine Strapaze“, weiß Europaabgeordneter Norbert Neuser, der Kämpchen wenige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie einen Besuch in Westbengalen abstattete und sich einen Eindruck von der Projektarbeit verschaffte.
Seit dem 1. April ist Kämpchen nun wieder in seiner Geburtsstadt. Über WhatsApp, E-Mail oder Telefon verfolgt er, welche Veränderungen in Westbengalen stattfinden. Ein 40-tägiger Lockdown wurde von der indischen Regierung verhängt. „Man kann sich hier in Deutschland gar nicht vorstellen, was das heißt. Zweimal in der Woche dürfen die Menschen für ein paar Stunden auf die Märkte zum Einkauf. Ansonsten müssen sie sich rund um ihre Häuser aufhalten.“
Indien ist ein großes Land mit sehr großer Bevölkerung. „Die Menschen dort unter Disziplin zu bringen, ist schwierig. In Deutschland fügt man sich den Anordnungen der Regierung“, erklärt Kämpchen, der seit mehr als 40 Jahren in Indien lebt und arbeitet. Sein Anliegen ist der kulturelle Austausch zwischen Indien und Deutschland, insbesondere auf dem Gebiet der Literatur und der Religionen. Er reist viel in Indien, besucht einmal jährlich Europa, hält Lesungen und Vorträge in Deutschland und Indien. Daneben liegt ihm die Entwicklung einer in Indien eher vernachlässigten Menschengruppe, der Stammesbevölkerung in den indischen Dörfern, am Herzen.
Die Menschen in den Dörfern Ghosaldanga und Bishnubati gehören dem Stamm der Santal an, einem der größten Stämme der Adivasi, wie in Indien die Ureinwohner genannt werden. Der Hinduismus siedelt die Adivasi unterhalb des Kastensystems an. 1991 wurden bei einer Volkszählung 5,2 Millionen Santal erfasst. Ökonomisch gehören die Santals zu den ärmsten Gemeinschaften in Indien. Heute leben sie in eigenen Dörfern meistens als Bauern und Landarbeiter. Viele sind Tagelöhner und arbeiten auf Baustellen, in Fabriken und Ziegeleien.
„Eigene Tänze und die Sprache der Santal drohen unterzugehen“, erklärt Kämpchen. Der bengalische Schulunterricht ist mehr auf die Städte als auf die Landbevölkerung ausgerichtet. In Sachen Schulsprache wird Englisch bevorzugt. Die eigene Sprache der Santal ist sehr kompliziert. Sport fehlte bislang gänzlich auf dem Lehrplan an der Dorfschule. Hier unterstützt die Neuser-Stiftung „Kick for help“ die Arbeit. „Wir als Verantwortliche wollen ein breites Angebot an Fächern ermöglichen, die genau auf die Bedürfnisse von armen Dorfkindern ausgerichtet sind“, betont Kämpchen. Die zusätzlichen Fächer Kunst, Musik und Sport seien für die Kinder wichtig. Seit 20 Jahren existiert die Schule, die viel Anerkennung erfährt. Viele Besucher aus Deutschland und Europa haben der Schule bereits einen Besuch abgestattet. „Mehrere junge Menschen pro Jahr kommen nach Westbengalen, um bei uns im Dorf zu wohnen und mitzuarbeiten. Abiturienten, die auf den Studienplatz warten, nutzen unser Angebot, hier mitzuarbeiten“, erzählt Kämpchen mit einem Lächeln im Gesicht.
Seit mehr als 30 Jahren bemüht er sich in den beiden Stammesdörfern Ghosaldanga und Bishnubati um eine alternative Entwicklungszusammenarbeit. Seine Beobachtungen, Erfahrungen und Erlebnisse mit den Menschen vor Ort hat er bereits in mehreren Büchern beschrieben.
Die Lebensstile der indischen Bevölkerung unterscheiden sich sehr von der deutschen Lebensweise. Eng miteinander lebt man in Indien. Daher sei es in öffentlichen Räumen schwierig, den notwendigen Abstand zu wahren, um die Corona-Situation nicht zu verschlimmern. Trotzdem seien bislang nur 7700 Menschen in Indien gestorben, was für Kämpchen erstaunlich wenig ist, angesichts einer Gesamtbevölkerung von 3,3 Milliarden. Aber aus den Zeitungen weiß Kämpchen, dass nur wenige Tests im Vergleich zu anderen Ländern gemacht wurden. Das indische Gesundheitssystem ist stark unterfinanziert. Jede neue Regierung bleibt dabei: Budgets für die Gesundheit werden nicht erhöht, wie Kämpchen erzählt.
Er ist in Indien viel unterwegs, sei es zu Vorlesungen an den Universitäten oder für den Verein, und weiß: „Menschen ohne Arbeit und ohne Bewegungsfreiheit haben es sehr schwer, um an die alltäglichen Dinge zu kommen.“ Alleinstehende Männer oder Frauen, Arme und Kranke seien besonders betroffen. Sie erhalten vom Verein regelmäßige Zuwendungen. Dank der Großzügigkeit eines französischen Mitglieds aus Paris, das 10.000 Euro spendete, konnte Kämpchen mit seinem Verein wieder einmal gezielt Hilfe leisten. Staatliche Unterstützung für alle rationierten Grundnahrungsmittel, die kostenlos abgegeben werden, gibt es. Die Landbevölkerung erhält mit einer Rationskarte für die Familie Reis, Weizen, Öl, Salz und Zucker und erhält zu subventionierten Preisen vom Staat Lebensmittel. Für die Monate April, Mai und Juni gibt es die Grundnahrungsmittel jetzt kostenlos. „Das ist eine Riesenhilfe in den Dörfern, nicht in den Städten“, fasst Kämpchen zusammen.