Das Ungewöhnliche war allen voran das irritierende Aussageverhalten des Opfers. In den ersten Wochen und Monaten nach der Tat schilderte die junge Frau Ärzten, Polizisten und Sozialarbeitern die immer gleiche Geschichte: Ihr Verlobter stach aus Eifersucht auf sie ein. Doch als sie am 21. Dezember als Zeugin vor Gericht steht, verweigert sie die Aussage, sagt zitternd, sie wolle weiter mit dem Mann zusammenleben – schaut ihm dabei aber nicht einmal ins Gesicht.
Ende Januar wendet sie sich mit einem Brief an die Kammer und bittet darum, erneut aussagen zu dürfen. Am 6. Februar beteuert sie im Prozess, sie habe den Angreifer nicht sehen können – und wisse somit nicht, wer sie beinahe getötet hat. Diese Behauptung aber entlarvt ein Rechtsmediziner als Lüge. Denn: Die Schnittwunden an ihren Händen seien eindeutige Abwehrverletzungen.
Oberstaatsanwalt Sven von Soosten leitete deshalb ein Ermittlungsverfahren wegen uneidlicher Falschaussage gegen die 19-Jährige ein. Und doch zeigte er in seinem Plädoyer Verständnis für die junge Frau: „Ich bin überzeugt davon, dass das Opfer unter massiven Druck gesetzt wurde.“ Dafür spreche nicht zuletzt der Kassiber, den der 23-Jährige aus der Haft schmuggeln ließ. Darin schreibt er an seine Verlobte: „Ich liebe dich genauso wie vorher. Bitte rette mich von den Händen dieser ungläubigen Leute.“ Und: „Wir hatten so viele gute Tage. Doch einen Moment hat mich die Bosheit ergriffen.“
Martin Gewehr, der Anwalt der 19-Jährigen, sah darin gar ein verbrieftes Geständnis – und forderte ebenso wie der Staatsanwalt sieben Jahre Haft. So spielte sich die entsetzliche Tat laut Urteil ab: Das Paar lernt sich 2016 auf seiner Flucht aus Afghanistan kennen. Im Februar 2017 verlobt es sich in Boppard nach islamischer Tradition. Doch von einer harmonischen Beziehung kann keine Rede sein. Der 23-Jährige ist hochgradig eifersüchtig, kontrolliert und überwacht seine Verlobte auf Schritt und Tritt. Immer wieder streiten die beiden.
So auch am Morgen des 16. Juni: Sie will mit ihm nach Köln fahren, er sagt kurzfristig ab. Während er redet, dreht sie ihm den Rücken zu, um Wäsche aufzuhängen. Der Afghane empfindet die Geste als respektlos. Zwischen 14 und 15 Uhr geht er in das Zimmer seiner Verlobten – und sticht mit zwei Messern auf sie ein. Als sie zu Boden sackt, versucht er, sie mit den Händen zu ersticken. Letztlich lässt er nur von ihr ab, weil sie ihm verspricht, allen zu erzählen, sie habe sich selbst verletzt.
Der 23-Jährige hatte die Tat bis zuletzt bestritten. Er behauptet, erst in das Zimmer gekommen zu sein, als die Frau bereits blutüberströmt am Boden lag; das Messer habe er ihr aus dem Körper gezogen und daraufhin den Notruf gewählt. Deshalb plädierten seine Anwälte Axel Bertram und Heinz-Dieter Schütze-Nolting auf Freispruch. „Wir haben niemanden, der belegt, was in dem Zimmer geschehen ist“, resümierte einer der Verteidiger. Und sein Kollege ergänzte: „Ich sehe hier kein richtiges Motiv. Warum soll es zu einer derartigen Explosion gekommen sein?“
Der Vorsitzende Richter Andreas Bendel entgegnete: „Was die Verteidigung hier als fehlendes Motiv bezeichnet, nennen wir einen nichtigen Anlass.“ Dem Afghanen droht neben der Haftstrafe auch die Abschiebung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.