Ein Interview der neuen Bundestagspräsidentin Jutta Klöckner mit der „Bild am Sonntag“ hat deutschlandweit Wellen geschlagen. Klöckner hat darin die Kirche in Deutschland dazu aufgerufen, die Seelsorge der Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken, statt sich übertrieben politisch zu engagieren. Auf die Frage, warum immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten, sagte sie, dass Kirche „nicht immer die Antworten gibt, die die Menschen gerade brauchen“.
So hätte die Kirche etwa in der Corona-Zeit „vielleicht noch einen Tick mehr an Stabilität, mehr an Sinnstiftung und Seelenbegleitung geben können“. Sie kritisierte zudem eine Tendenz bei den Kirchen, ihre Stellungnahmen zu tagesaktuellen Themen abzugeben „wie eine NGO“ und nicht mehr die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod im Blick zu haben. Klöckner sagte: „Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern, aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer.“ Sie erwartete von Kirche eher eine „sinnhafte Begleitung, Antwort auf Fragen, die ich in meinem Alltag habe, auch Trost und Stabilität“.
Dax: Kirche muss Meinung bei Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden deutlich machen
Das Feedback auf Klöckners Äußerungen fällt im Kreis Bad Kreuznach gemischt aus. Gemeindereferent Bernhard Dax vom Naheraum in Bad Kreuznach möchte die Klöckner-Kritik differenziert betrachten. Er verstehe, was sie meine, wenn sie mehr Sinnstiftung von den Kirchen einfordere. „Aber immer dann, wenn es um Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden geht, hat Kirche die Pflicht, ihre Meinung deutlich zu machen“, erklärte Dax. Der Tod von Papst Franziskus habe diese seine Forderungen gerade noch einmal vor Augen geführt. Überrascht haben Dax die Aussagen der Vorsitzenden der Grünen-Bundestagsfraktion Britta Haßelmann und von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), die verlautet hatten, dass Kirche sehr wohl eine Stimme auch zu tagespolitischen Fragen haben sollte. „Daran erkennt man doch, welche Relevanz die Meinung der Kirche immer noch hat“, glaubt Dax.

Robert Neuber findet: „Weltbild ja, Kirche nein“
Wie politisch darf Kirche sein? Diese Frage wirft ein Klöckner-Interview auf. Unser Redakteur Robert Neuber kommentiert: Die Kirche verliert, weil sie zu wenig Sinn stiftet, dafür zu oft eine woke Belehrungshaltung einnimmt.
Seine Kollegin Claudia Kuhn, Gemeindereferentin in der Pfarrei Sponheimer Land in Roxheim, glaubt, dass Klöckner mit ihrer Kritik im Hinblick auf das Verhalten der Kirche während der Corona-Pandemie durchaus Recht habe. Vielleicht hätte man seinerzeit noch näher bei den Menschen sein müssen, denkt Kuhn heute. „Ich bin dennoch der Meinung, dass Kirche immer dann die Stimme erheben muss, wenn es um die Menschenwürde oder den Klimaschutz geht“, sagt sie. Kuhn unterscheidet dann auch nicht, ob es innen- oder außenpolitische Fragen seien. „Wo Menschen ausgegrenzt sind, da müssen wir unsere Stimme erheben“, wird sie deutlich. Kuhn erinnert daran, dass der verstorbene Papst Franziskus die Gläubigen stets aufgefordert hat, an die Ränder zu gehen und sich für die Armen einzusetzen. Sie selbst war im Zuge der Flut ihm Ahrtal als Seelsorgerin dort. „Danach kann man gar nicht anders, als sich für den Klimaschutz einzusetzen“, erinnert sie sich. Kuhn fragt sich zudem selbstkritisch: „Vielleicht sind wir als Kirche doch zu stark im Verborgenen“.
Neeb: Schweigen treibt Menschen von Kirche weg
„Wir verlieren längerfristig Menschen, wenn wir schweigen“, sind die Hackenheimer Pfarrerin Lina Neeb und ihr Partner Johannes Mankel, der selbst Pfarrer ist, überzeugt. Kritik, Kirche solle sich aus der Tagespolitik heraushalten, können beide nicht nachvollziehen. Der Glaube mache schließlich den Menschen aus. Wenn er dann aus diesem Glauben heraus, seine Stimme zur Tagespolitik erhebt, sei dies so Neeb und Mankel nur folgerichtig. Beide erinnern, dass die Wertevorstellung – auch die von Politik – aus dem Christentum erwachsen ist. Die beiden Seelsorger glauben, dass Politik dahin tendiert, einfache Antworten zu geben. Dies werde allerdings dem Menschen nicht gerecht. Auf Mankel sind übrigens schon Gläubige zugekommen, die ihn gebeten hätten, doch auch mal politisch zu predigen.
Helmut Martin sieht „Klöckner-Bashing“
„Zunächst habe ich den Eindruck, dass manche von denen, die jetzt Frau Klöckner so massiv kritisieren, das Interview gar nicht gelesen haben; sonst würden sie differenzierter argumentieren. Zudem kann man doch nicht einfach unterschlagen, dass Julia Klöckner ihr Glaube wirklich wichtig ist und sie sich seit jungen Jahren immer für die Kirche engagiert, auch wenn ihr das nicht nur Applaus gebracht hat. Wer diese Grundhaltung von Frau Klöckner bei der Interpretation des Interviews ausblendet, zeigt doch, dass es mehr um „Klöckner-Bashing“ geht als um eine ernsthafte Auseinandersetzung“, wendet sich Klöckners Parteikollege Helmut Martin, stellvertretender Fraktionschef der CDU im rheinland-pfälzischen Landtag sowie Bad Kreuznacher Stadtrat, vor allem an die Politikvertreter, die Klöckner auf Social Media massiv kritisiert haben.

Vera Müller meint: Kirche muss nah an den Menschen sein
Wie politisch darf Kirche sein? Diese Frage wirft ein Klöckner-Interview auf. Unsere Redakteurin Vera Müller kommentiert: „Kirche muss politisch sein, um nah an den Menschen zu sein.“
Er teile die Meinung, dass Kirche natürlich politische Entscheidungen hinterfragen müsse und auch die Maßstäbe benennen solle, die für politisches Handeln aus christlicher Überzeugung heraus zu beachten seien. „Aber wer meint, aus der christlichen Botschaft selbst konkrete politische Entscheidungen ableiten zu können und die dann auch noch als ’einzig christlich’ qualifiziert – der oder die hat einen zentralen Aspekt des christlichen Menschenbilds nicht verstanden. Denn sonst wüsste er oder sie um die Fehlbarkeit eines jeden Menschen – auch der professionellen Kirchenvertreterinnen und -vertreter. Deswegen wünsche ich mir tatsächlich auch oft eine stärkere Konzentration auf den Aufgabenkern der christlichen Kirchen und weniger Versuche, den Menschen zu erklären, was politisch richtig sei.“
Zustimmung für Klöckner-Worte von der AfD
Die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst freut sich über die Klöckner-Äußerungen und kommentiert auf ihrem Facebook-Profil: „Frau Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, zu Ihrer klugen Einlassung in Ihrem Interview in der Bild-Zeitung bezüglich der Situation und des Agierens der Kirchen in Deutschland ist Ihnen zu gratulieren. Ob wissentlich oder unwissentlich teilen Sie hier fast eins zu eins die Gedanken meines Interviews im Freilich-Magazin vor einigen Monaten. Ich freue mich sehr über solch deutliche Gemeinsamkeiten, die jenseits des tagesaktuellen, parteipolitischen Gefechts sehr Grundlegendes ansprechen. Es ist für unsere Gesellschaft, Demokratie und Wohlfahrt des Staates von immenser Bedeutung, dass die Menschen einen vom Staat unabhängigen Raum finden, der ihr Innerstes betrifft und Rat und Sinn stiftet. Das war immer die Aufgabe der Kirche und auch ihre Pflicht vor Gott. Es bleibt zu wünschen, dass sich die Kirchen auf ihr Kerngeschäft der Seelenführung und des Sakralen wieder besinnen. Dafür gilt es zu beten.“