Laute Rufe ertönen auf dem Anwesen der Familie Barthelmeh: „Alle raus, alle raus!“ Es ist März 1945, die amerikanischen Truppen sind in Wallhausen angekommen, bereit, die Häuser zu besetzen. Der Familie bleibt kaum Zeit: Die 13-jährige Rosemarie Barthelmeh schnappt sich Kissen, kommt damit der Aufforderung ihrer Mutter nach – alles andere bleibt zurück. Kurze Zeit später steht die Familie auf der Straße. Nichts anderes bleibt ihnen übrig, als den US-Soldaten dabei zuzusehen, wie sie ihre Feldküchen und Unterstände aufbauen – auf dem Winzerhof, der wenige Sekunden zuvor noch ihr Zuhause war.
Rosemarie Schlink (geborene Barthelmeh) erinnert sich genau an diesen Tag vor 80 Jahren. „Da standen wir fünf Kinder mit unserer Mutter und hatten kein Dach mehr über dem Kopf.“ Im Kelterhaus der Großeltern, die ebenfalls Weinbauern waren, hätte die sechsköpfige Familie, bestehend aus fünf Kindern und der Mutter, Platz gefunden. Der Vater sei zu diesem Zeitpunkt noch im Krieg gewesen. „Es war ganz eng, wir haben mit 40 Leuten in dem Haus gelebt“, erinnert sich die 93-Jährige.

Eines Nachts klopft es an der Tür des Kelterhauses. Zwei US-Soldaten kommen hinein. Die Tante der 13-jährigen Rosemarie Barthelmeh versteckt sich. Sie hat Angst, dass die Männer ihr etwas Schlimmes antun – sie ist 30 Jahre alt, zu diesem Zeitpunkt nicht verheiratet. Doch die Frau hat keine Chance, die Männer finden sie, ziehen sie aus dem Versteck und bedrohen sie mit einer Pistole. Zu hören ist nur das Schreien der anwesenden Kinder. Die Erwachsenen fangen an zu beten, die Kinder machen mit.
„Ein Arbeiter des Weinguts meiner Großeltern betete mit einem Rosenkranz. ‚ Du Katholik?’, fragten die beiden amerikanischen Soldaten auf Deutsch und ließen von meiner Tante ab“, erinnert sich die 93-jährige Schlink. Ihre Tante blieb unversehrt, die beiden Männer verließen den Raum. Doch der Schock sitzt noch heute tief. „Ich kann nicht erklären, wie schlimm das war. Ich fange noch immer an zu zittern“, sagt sie.

Nicht alle Begegnungen mit den amerikanischen Soldaten seien so schlimm gewesen, wie in jener Nacht. Mit ihrem Cousin sei sie eines Tages zurück in ihr Elternhaus gelaufen, erzählt Schlink. „Ich wollte meine Puppen aus dem Keller holen.“ Diese hatte sie am Tag der Besetzung im Haus zurücklassen müssen. Die Suche war erfolgreich: Samt der Puppen seien sie die Kellertreppe hinaufgegangen. Doch oben habe bereits ein schwarzer US-Soldat auf sie gewartet.
„Ich hatte panische Angst“, sagt Schlink. Doch der Mann hätte den beiden Kindern Schokolade und Apfelsinen geschenkt und sie gehen lassen. „Ab dem Zeitpunkt war ich in die Amis verliebt“, sagt die 93-Jährige und fügt nachdenklich hinzu: „Die haben uns ja auch von dem Hitler-Regime befreit.“ Ein Regime, das Schlink mit all den Gräueltaten als Kind hatte erleben müssen.
„Als am 8. Mai 1945 die Nachricht kam, dass der Krieg vorbei ist, sind wir in der Küche rumgesprungen und haben gefeiert.“
Rosemarie Schlink, Zeitzeugin des Zweiten Weltkriegs
Als Siebenjährige sieht Schlink, wie ein Mann eine jüdische Familie in einen Viehwagen zerrt. „Ich hatte lange Zeit schlechte Träume“, so die 93-Jährige. Insgesamt seien in Wallhausen drei jüdische Familien abgeholt worden, bis auf einen jungen Mann, der frühzeitig hatte abhauen können, sei von diesen Familien keiner mehr zurückgekehrt.
Es sind Erlebnisse, die auch 80 Jahre später noch nachwirken. „Das ist mir furchtbar in Erinnerung geblieben“, sagt Schlink. Umso schöner sei die Erinnerung an den Tag, als der Krieg offiziell endete. „Meine Mutter hörte in der Nacht immer einen amerikanischen Radiosender. Das war eigentlich verboten.“ Ganz nah habe die Mutter ihr Ohr deshalb an den Apparat gehalten, ganz leise seien die Stimmen nur hervorgedrungen. „Als am 8. Mai 1945 die Nachricht kam, dass der Krieg vorbei ist, sind wir in der Küche rumgesprungen und haben gefeiert.“