Im März 1945 erlebte Elfriede Lenzen, die heute ihren 100. Geburtstag feiert, wie die Panzer der US-Streitkräfte ihren Heimatort passierten. Sie fuhren nicht ins Dorf, sondern gleich den Johannisberg hinauf Richtung Windesheim. „Das war am 16. März, da wusste ich, ich muss nicht in die Ukraine“, erzählt Elfriede Lenzen.
Behütete Kindheit trotz Krieg
Denn die Nationalsozialisten planten, nach dem „Endsieg“ junge Frauen in die Ukraine zu schicken, um dort deutsches Blut zu verbreiten. Anders als viele Alterskameradinnen wurde Elfriede Lenzen im Krieg nicht zum Arbeitsdienst eingezogen. Der Grund: Ihre Eltern Alois und Elisabeth Lunkenheimer betrieben eine Bäckerei in Wallhausen, die war wichtig für die Versorgung der Bevölkerung. Als einziges Kind wuchs sie behütet auf, dennoch prägten die beiden Weltkriege ihre Kindheit und Jugend. Ihr Vater Alois musste in beiden Kriegen dienen. Er riskierte sogar sein Leben, als ihn der zweite Stellungsbefehl ereilte und buk zuerst das Brot für den nächsten Tag, bevor er sich meldete. Elfriede Lenzen erinnert sich, dass Ende der 1920er/Anfang der 1930er-Jahre die Armut im Dorf weit verbreitet war. Die Bauern bekamen nur wenig für ihr Korn, für die Trauben oder den Wein, es gab kaum Arbeit, viele Familien litten Not.
Die Nationalsozialisten, die mit Straßenbau und anderen kriegsvorbereitenden Maßnahmen wie dem Bau des Westwalls für Arbeit sorgten, bekamen dadurch Zulauf. Im Alltag auf dem Dorf erlebte Elfriede Lenzen als Mädchen die von der Nazipartei organisierten Zusammenkünfte im BDM als unbeschwerte Zeit, in der gemeinsam gesungen wurde. „Das hat uns gefallen, man hat sich ja sonst nie getroffen“, erklärt Lenzen. Klare Regeln, statt Freizeit: Entweder morgens vor der Schule den Stalldienst übernehmen oder die Messe besuchen. Nach dem Kriegsende wollte sie auch einmal weg von Daheim. Ein Jahr lang absolvierte sie die Haushaltsschule des Ordens der Borromäerinnen in Boppard. Nach ihrer Rückkehr nach Wallhausen, vertiefte sich die Bekanntschaft mit einem jungen Mann, der ihr schon in den letzten Kriegsjahren aufgefallen war. 1950 heiratete sie Heinz Lenzen, der nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst ein Lehramtsstudium begann.
Kein Makel, sondern ein Sonnenschein
Das Ehepaar bekam vier Kinder, zuletzt Tochter Christiane, die 1965 geboren wurde. Christiane Lenzen kam mit Down-Syndrom zur Welt. „Das war damals etwas Schlimmes“, beschreibt Elfriede Lenzen das gesellschaftliche Klima der frühen 1960er, in dem die Behinderung als Makel empfunden wurde. Sie musste selbst lange mit sich kämpfen, bevor sie ihre Tochter annehmen konnte. Ihr Mann, der als Professor an der Universität Köln Sonderpädagogik lehrte, förderte Christiane von Beginn an. Als erstes Kind mit Behinderung besuchte sie den Kindergarten in Wallhausen. Danach setzten sich die Eltern dafür ein, dass ihre Tochter eine gute Schulbildung bekam. Christiane besuchte zunächst die damalige Sonderschule für Kinder mit geistiger Behinderung. „Dort stand die Lehrerin auf dem Standpunkt, dass es ausreicht, wenn die Kinder lernen, mit Messer und Gabel zu essen“, erzählt Elfriede Lenzen.
Mit einem Attest über ein Wirbelsäulenleiden konnte sie auf die Schule für Kinder mit Körperbehinderung wechseln. Nach der Schule unterrichtete Elfriede Lenzen die Tochter selbst in Haushaltsführung und Christiane arbeitet später in einem Krankenhaus, danach in einem Kloster. Im Alltag, auf der Arbeit oder im Urlaub: Die Eltern erlebten oft, dass ihre Tochter einen unmittelbaren Zugang zum Herzen oft wildfremder Menschen hat, sie zum Strahlen bringt. 2022 stirbt Christiane Lenzen an Corona, für ihre Mutter war es ein großes Geschenk, dass sie sie bis zuletzt begleiten durfte. Mit ihrem Mann hat Elfriede Lenzen auch die Erwachsenenbildung und später die Seniorenarbeit in Wallhausen angeschoben. Dafür wurde sie mit der Ehrenmedaille der Gemeinde ausgezeichnet.