Deutsche Soldaten knien nieder, zusammengepfercht auf einer Wiese. Ungewissheit, Unsicherheit und Angst: Wie es weiter geht, weiß niemand. Drei amerikanische Panzer rollen auf die Gruppe zu, drohen, sie zu überrollen. „Jetzt ist es aus“, denkt Kurt Dörr. Es sind die Gedanken eines 16-Jährigen. US-Soldaten nehmen Dörr am 27. April 1945 gefangen – kurz bevor der Krieg am 8. Mai offiziell endet.
Das Ereignis hat sich bei dem heute 96-Jährigen eingeprägt. „Die Amerikaner wollten uns deutschen Soldaten richtig Angst machen“, sagt Dörr über das Fahrmanöver der Panzer. Ernst gemacht hätten sie zum Glück nicht. „Unsere Verpflegung, Zelte, Decken: Das haben uns die Amis alles weggenommen. Wir hatten kein Kochfeld mehr, die Löffel haben sie abgebrochen.“ Wo genau er sich am Tag seiner Gefangennahme befand, weiß Dörr nicht mehr. Irgendwo zwischen Augsburg und Günzburg müsse er gewesen sein – mehrere Hundert Kilometer entfernt von seinem Heimatort Traisen.

November 1944: Der 16-jährige Dörr erhält einen Einstellungsbefehl. Er soll sich als Flakhelfer in Rottweil melden. Mit circa 200 Mann wird er vom Schwarzwald nach Oberschlesien verlagert – zum Fliegerabwehrkampf, nicht als Kampftruppe. Mit starken Fliegerabwehrkanonen (Flak) sollen die Männer dort ein Industriegebiet gegen Luftangriffe der Alliierten verteidigen. Doch bereits kurze Zeit später, im Januar 1945, gelingt den russischen Truppen der Durchbruch.
Dörr erinnert sich: „Unsere Geschütze wurden gesprengt.“ Also sei es für die deutschen Männer zurück nach Rottweil gegangen, von da aus weiter nach Bayern. Im Frühjahr 1945 hätten sie zunächst in Chieming am Chiemsee eine Maschinengewehr-Ausbildung und danach in Augsburg eine Panzerjägerausbildung zur Nahbekämpfung machen müssen. „Die Front war zu diesem Zeitpunkt schon zusammengebrochen“, sagt Dörr. Die Flughäfen seien bereits geräumt, die Verpflegung der deutschen Truppen deshalb nicht mehr möglich gewesen. „Bad Kreuznach war schon besetzt, da wurden wir noch ausgebildet.“
„Ab da ging das Elend richtig los.“
Zeitzeuge Kurt Dörr über den Tag seiner Gefangennahme im Zweiten Weltkrieg
April 1945: Die amerikanischen Truppen drängen immer weiter vor. Die deutschen Soldaten zerlegen ihre Geschütze, schieben sie auf dem Rückzug mit sich mit. Erst, als der Beschuss zu stark wird, lassen sie die schweren Schusswaffen stehen. Zu Fuß geht es nun weiter durch den fremden Wald. Die Soldaten stoßen auf einen deutschen Panzer. In der Hoffnung auf Rettung versuchen sie, auf das Kettenfahrzeug zu gelangen, so auch der 16-jährige Dörr – vergebens.
80 Jahre später weiß Dörr, dass er von Glück sprechen kann, dass er es nicht auf den deutschen Panzer schaffte. „Ein Soldat aus Oberschlesien und ein Soldat aus dem Westerwald kamen auf den Panzer drauf. Die wurden noch am letzten Tag erschossen.“ Mit dem letzten Tag ist der 27. April 1945 gemeint, der Tag der Gefangennahme. „Ab da ging das Elend richtig los“, sagt der 96-Jährige.
Dörr ist in Gefangenenlager in Frankreich untergebracht
27. April 1945: Dörr und seine Mitgefangenen werden nach Aalen gebracht und in großen Hallen eingesperrt. Von da aus geht es, mit einem Zwischenstopp in Heilbronn, weiter nach Ludwigshafen am Rhein – in ein Freilager. Läuse, Schlamm und Dreck: Die deutschen Gefangenen leben in elendigen Zuständen. Zu essen gibt es nur wenig, das Brot am Abend ist knapp, die Suppe begrenzt, sodass der 16-Jährige Dörr leer ausgeht.
Die Zeit in Ludwigshafen steckt dem Traisener noch immer in den Knochen: „Wir haben bei Regen im Dreck gelegen. Das war eine Entbehrung.“ Wer dort krank wurde, sei direkt ins Leichenhaus gebracht worden. Als am 8. Mai 1945 das offizielle Kriegsende bekannt wurde, herrschte unter den Gefangenen keine Euphorie: „Wir waren so fertig, wir konnten uns nicht mehr freuen.“ Für Dörr ging es am 1. Juni 1945 weiter in ein Gefangenenlager nach Frankreich. Ungefähr einen Tag lang habe die Fahrt in dem Eisenbahnwagen gedauert – genauer in dem Viehwagen, mit 40 Mann auf engstem Raum, ohne Toiletten.
„Wir haben bei Regen im Dreck gelegen. Das war eine Entbehrung.“
Zeitzeuge Kurt Dörr über seine Zeit im Gefangenenlager in Ludwigshafen
Dörr erinnert sich an die Ankunft im amerikanischen Gefangenenlager auf französischen Boden: „Da war nichts – Stacheldraht und aus.“ Also hätten die Gefangenen angefangen, Unterstände aus Holz zu bauen. „Da haben wir mit 16 Mann drin gelegen. Es war ein Jammer.“ Suppe und Brot, mehr habe es auch in diesem Lager nicht gegeben, aber die Versorgung sei nach zwei bis drei Monaten besser geworden.
Gedanken an die Heimat plagten den Traisener in seiner Zeit in Frankreich. „Ich habe mich gefragt, wie es zu Hause aussieht. Wir waren von der Welt abgeschottet, wussten nicht, was in Deutschland los war.“ Ein einziges Mal habe er einen Brief an seine Familie schreiben dürfen. „Das Lager hieß ‚Oklahoma City’, also dachte meine Familie, ich wäre in den USA. Ich selbst wusste nicht einmal genau, wo ich war.“
Dörr kehrt zurück in seine Heimat
Im Januar 1946 ging es für Dörr vom Gefangenenlager aus mit einem Entlassungszug über Straßburg, Kehl und Offenburg nach Tuttlingen in ein Entlassungslager – in eine zu diesem Zeitpunkt von Frankreich besetzte Zone. In Bad Kreuznach kam Dörr am 30. oder 31. Januar an, so genau erinnert er sich nicht mehr. Doch das Bild, das sich ihm bot, als er als junger Mann zurück in seine Heimat kehrte, hat sich bei dem 96-Jährigen eingeprägt. „Es war alles kaputt. Die Wälder sahen aus wie rasiert.“