Der Familienvater, der aktuell nicht mehr arbeiten kann, hat eine Krankheitsgeschichte hinter sich, die sein Leben komplett verändert hat. Früher, also vor der Impfung, war der Angestellte sportlich, voll berufstätig, fuhr gern Rad, war belastbar. Heute, nach der Impfung, ist das anders. Völlig anders.
„Durch die Gleichgewichtsstörungen habe ich heute beim Reinschrauben einer Glühbirne Probleme. In der Akutphase konnte ich nicht mal mehr eine Straße überqueren“, erzählt Thomas Kunz. Für ihn ganz wichtig: „Um das klarzustellen, ich bin weder Corona-Leugner, Impfgegner, 'Querdenker' noch sonst was. Ich möchte auf meinen Fall aufmerksam machen und darauf hinweisen, dass eine Impfung nicht bloß ein 'Piks' ist“, sagt Kunz fast schon entschuldigend. Er wisse, dass die Impfung vielen Menschen das Leben rette, aber ihn störe die Verharmlosung, wenn man die Corona-Impfung, genau wie jede andere Impfung, eben bloß als Piks bezeichne.
Bei Thomas Kunz kommt hinzu: Als er sich am 27. Mai dieses Jahres im Impfzentrum in Bad Sobernheim das Schutzpräparat verabreichen ließ, war diese seltene Nebenwirkung noch gar nicht bekannt. Also wurde Kunz darüber gar nicht aufgeklärt. Inzwischen hat sich die Sachlage geändert. Das GBS wird inzwischen als Nebenwirkung geführt und findet sich auch seit August im Aufklärungsbogen für die Covid-19-Impfung wieder. „Kein Arzt, den ich aufgesucht habe, war damit vertraut und hat einen Zusammenhang zwischen Impfung und meinem Zustand gezogen. Viele waren überfordert. Dadurch habe ich wichtige Zeit verloren“, erklärt Kunz. Ihm gehe es nicht darum, Vorwürfe zu verteilen. „Wenn nur einem mit meiner Geschichte geholfen werden kann und er oder sie keine Zeit verliert, dann ist das viel wert.“
Immunsystem schädigt Nerven
Die Symptome des neurologischen Krankheitsbilds, das in Deutschland bei 83,13 Millionen Einwohnern jährlich zwischen 1300- und 1570-mal auftritt, sind zum Teil schwerwiegend: Lähmungen und Sensibilitätsstörungen in den Extremitäten können dazu führen, mitunter auch im Gesicht, dass die Betroffen phasenweise nicht mehr gehen können. Dazu kommen diffuse Schmerzsymptomatiken. Zu diesen Ausfällen kommt es, weil autoaggressive Immunzellen die isolierende Ummantelung der Nervenbahnen angreifen und auch die Nervenbahnen selbst schädigen. Das eigene Immunsystem schädigt die Nervenbahnen. Meistens klingen die Beschwerden nach einer Zeit von bis zu einem halben Jahr ab, in einigen Fällen, so wie bei Thomas Kunz, wird die Krankheit chronisch. Eine Aussicht auf vollständige Heilung oder eine Prognose für die Art des Verlaufs gibt es nicht. In Behandlung ist er in der Uniklinik Mainz, die Experten auf dem Gebiet GBS hat. Doch bis er dort angelangt war, vergingen fast zwei Monate.
Zum wissenschaftlich belegten Zusammenhang zwischen Impfung und GBS: Ob das Johnson-&-Johnson-Vakzin die Nervenerkrankung tatsächlich auslöst, ist noch nicht belegt Der Kausalitätszusammenhang ist noch nicht nachgewiesen, nennt man das in Medizinsprache. Aber: Die zeitliche Häufung lässt einen Zusammenhang als möglich erscheinen. Aber: Das muss nicht zwingend etwas mit den Covid-19-Impfstoffen zu tun haben. Allgemein tritt ein GBS häufiger nach Impfungen (egal, gegen welche Erkrankung) und nach Infektionen auf.
Weltweit sind bis zum 30. Juni bei mehr als 21 Millionen verimpften Dosen 108 Fälle eines Guillain-Barré-Syndroms nach der Impfung mit dem Covid-19-Vektorimpfstoff aufgetreten. Die Fachliteratur berichtet regelmäßig über mögliche Zusammenhänge. Doch es gibt auch anderslautende Zahlen. Der neuste Sicherheitsbericht des Paul-Ehrlich-Instituts, dem Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, vom 20. September listet die Nebenwirkungen bei der vom 27. Dezember 2020 bis zum 31. August 2021 andauernden Impfkampagne auf.
Dort sind 28 Fälle eines GBS nach der Impfung mit dem Johnson-&-Johnson-Mittel registriert worden – bei 2,85 Millionen Impfungen. Das entspricht einer Melderate pro 100.000 Impfdosen von 0,98, der höchsten bei allen Impfpräparaten. Eine sehr seltene Nebenwirkung also. Doch das nutzt Thomas Kunz nichts.
Es beginnt mit Rückenschmerzen
Seine Leidensgeschichte beginnt rund 18 Tage nach der Impfung mit nächtlichen Rückenschmerzen. „Dumpf und stark, sie kamen in der Nacht und gingen am Vormittag“, beschreibt er. Ein Besuch bei seinem Hausarzt verläuft ergebnislos, das ihm gute bekannte Einrenken kuriert sein Leiden nicht. „Ich wusste, dass es etwas ist, was ich bisher noch nicht hatte. Aber eine Verbindung zur Impfung habe ich nicht hergestellt.“ Dass er geimpft wurde, habe er jedem Arzt, der ihn in den nächsten Tagen behandeln sollte, mitgeteilt.
Keines der verschriebenen Schmerzmittel hilft ihm, Thomas Kunz schläft nachts keine Minute. Die Bestimmung von Borreliose-Titern im Blut sagt aus, dass Kunz eine Infektion mit dem Erreger bereits überstanden hat. Sie kann also nicht der Auslöser der Rückenschmerzen sein.
Ein paar Tage später verschlechtert sich sein Zustand. Die Schmerzen werden stärker, die Beweglichkeit ist plötzlich stark eingeschränkt. Kunz sucht die Notaufnahme eines Krankenhauses in Bad Kreuznach auf. Er bekommt Schmerzmittel, wird untersucht, aber man findet nichts. Auch hier erzählt Thomas Kunz, dass er geimpft worden sei. Mitte Juni ist ein möglicher Zusammenhang zwischen Impfung und GBS noch nicht wirklich bekannt, folglich reagiert der Arzt nicht darauf. Er wird laut Entlassbrief „beschwerdefrei“ nach Hause geschickt.
Am Zustand von Thomas Kunz hat sich indes nichts verändert. Ihm fällt es schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen, er hat weiter dumpfe Rückenschmerzen und fühlt sich hundeelend.
In seiner Verzweiflung wendet er sich am nächsten Abend an den Arzt eines Bereitschaftsdienstes. Es folgt der bekannte Ablauf: körperliche Untersuchung, Schmerzmittel sowie der Rat, den Hausarzt aufzusuchen. Auch hier wird der Information, dass Kunz vor etwa drei Wochen geimpft wurde, keine Beachtung geschenkt.
Mund und Auge gelähmt
Als er in der nächsten Nacht plötzlich Lähmungserscheinungen im Gesicht (Mund und Auge) bekommt, bekommt er Angst. Gegen 3 Uhr geht es in die Notaufnahme, in der er schon vier Tage vorher war. Ein Schlaganfall, der eine ähnliche Symptomatik aufweisen kann, wird vorerst ausgeschlossen. Man weiß schlichtweg nicht, was man mit dem Patienten Kunz machen soll. Gegen 8 Uhr ist klar, dass er ein Fall für eine neurologische Fachklinik ist. Es dauert noch eine Weile, bis man weiß, wo ein Platz für ihn frei ist. Gegen 11.15 Uhr wird er abtransportiert – ins 150 Kilometer entfernte Trier. Gegen 13.15 Uhr kommt man dort an. „Leider musste ich aber dort wieder in die Notaufnahme, es waren rund 40 Personen vor mir im Warteraum. Ich war fassungslos“, blickt er zurück. Als man bei ihm dann gegen 19 Uhr eine Lumbalpunktion – mittels einer Nadel wird über den Lendenwirbel eine kleine Menge Hirn- oder Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) aus dem Wirbelkanal (Spinalkanal) entnommen – durchführen will, sagt Kunz, der seit 16 Stunden unterwegs ist: „Stopp!“
Bittere Diagnose GBS
Am nächsten Tag wird diese Untersuchung nachgeholt. Gemeinsam mit einer Messung der Nervenleitgeschwindigkeit gibt es nun – endlich – eine Diagnose. Und diese heißt: Guillain-Barré-Syndrom. „Ich kannte mich damit nicht aus“, blickt Kunz zurück. Ein Gefühl, dass er auch bei denen hatte, die ihn behandelten. Die sofort begonnene Therapie mit Immunglobulinen schlägt an und lässt die Lähmungen zurückgehen. „Es ging mir sofort besser“, erinnert er sich.
Es folgt eine stationäre Reha, die ihm wenig bringt. Thomas Kunz sorgt für seine eigene Rehabilitation. Und die heißt: Training, Training und noch mal Training. Seine Ehefrau, die ausgebildete Gymnastiktrainerin ist, unterstützt ihn dabei. Sein Zustand verbessert sich etwas, aber Rückschläge lassen nicht lange auf sich warten. „Man fühlt sich schon alleingelassen“, sagt er.
Die Krankheit wird chronisch
Erst vor wenigen Wochen weist er sich selbst in die Uniklinik Mainz ein. Die Klinik und Poliklinik für Neurologie hat Erfahrung mit GBS. Die Weiterbehandlung dort mit Immunglobulinen schlägt weiter gut an. Allerdings erhält Kunz die Diagnose, dass seine Form des Syndroms wohl chronisch ist. Chronisch inflammatorisch demyelinisierende Polyneuropathie, kurz CIDP, nennt man das. Sie tritt bei vier bis acht Menschen pro 100.000 auf. Thomas Kunz geht damit so sachlich wie möglich um, sagt aber: „Das war der nächste Schlag für mich.“ So habe er sich seine Altersteilzeit nicht vorgestellt, ob er überhaupt noch mal arbeiten kann, ist offen. „Ich bin da jetzt irgendwie auf der Strecke geblieben“, findet er. Er will nun jetzt aber weiter trainieren und alles tun, damit sich seine Symptome weiter verbessern.
„Das ist zweifelsohne ein tragischer Fall. Diese Nebenwirkung ist sehr selten“, schätzt Internistin Dr. Heidi Jungblut ein, die bis vor zwei Jahren eine Praxis in Oberhausen bei Kirn betrieben hat. Die Medizinerin war von Anfang an im Landesimpfzentrum in Bad Sobernheim mit dabei und hat selbst mehrere Tausend Menschen geimpft. „Die Covid-19-Impfung hat sehr vielen Menschen das Leben gerettet“, ordnet sie ein.