Es ist Februar 1944: Helmut Bechtoldt wird als 17-Jähriger zum Reichsarbeitsdienst einberufen, mit sofortiger Weiterverwendung bei der Wehrmacht. Als Soldat ist er nun an der Ostfront im Bereich Ost- und Westpreußen sowie in den Kampfgebieten um Elbing, Gotenhafen, Danzig und Danziger Werder im Einsatz – weit weg von seiner Heimat Bad Kreuznach, wo er seine Kindheit in der Baumgartenstraße verbrachte und zur Schule ging.
Bechtoldt erlebte den 8. Mai 1945 als Soldat auf der Ostsee – auf einem kleinen Schiff, das eigentlich nicht für die hohe See gedacht war. 80 Jahre sind seither vergangen, Bechtoldt ist 98 Jahre alt, lebt in Hochstätten und blickt zurück.

Von seiner Einberufung an musste Bechtoldt noch über ein Jahr lang als Soldat dienen. Bechtoldt erinnert sich: „In jener Zeit, im Mai 1945, war schon lange der russische Vorstoß auf Berlin erfolgt – im Januar 1945. Die totale Niederlage war zu erwarten. Ausrüstung, Nachschub, Munition und Benzin wurden Mangelware.“ Hitler sei zum Datum des 8. Mai bereits über eine Woche tot gewesen – eine Information, die einfache Soldaten in ihren Frontstellungen nordöstlich von Berlin jedoch nicht gehabt hätten.
Viele Fragen gingen dem jungen Bechtoldt durch den Kopf, als ein Sieg nicht mehr möglich schien. „Sinn- und Existenzfragen standen im Mittelpunkt“, erinnert sich der 98-Jährige. Wie wird die nahe Zukunft aussehen? Kommen wir hier, fernab von zu Hause, noch gesund heraus? Steht womöglich die russische Kriegsgefangenschaft bevor? Wann werden die ständigen Traumatisierungen durch schreckliche Ereignisse und Bilder enden?
Bechtoldt lebt in ständiger Unwissenheit
Doch auch Fragen nach dem Wohlergehen der Familie hätten ihn geplagt: Wie geht es der Familie, den Nachbarn und Freunden in Bad Kreuznach? Wie haben die Eltern, die beiden älteren Brüder, die auf dem Balkan beziehungsweise in Nordafrika Dienst zu tun hatten, die Kriegszeit bis jetzt überstanden?
„Nachrichten aus der Heimat hörte ich zuletzt im Februar 1945, als ich zufälligerweise in einem Danziger Lazarett eine Ordensschwester vom Bad Kreuznacher St. Josephshaus – Ecke Baumgartenstraße/Jungstraße – traf, die allerdings wenig aktuelle Details aus der Heimat kannte“, sagt Bechtoldt. Sie habe jedoch von gravierenden Schäden durch feindliche Luftangriffe um den Jahreswechsel 1944/45 auf Bad Kreuznach berichtet, insbesondere in der Umgebung der Bahnlinie, nahe seines Elternhauses.
Soldaten erleben Kriegsende auf hoher See
Der 8. Mai 1945 – in Bechtoldts Erinnerung ein sonniger, warmer Tag: „Wir bestiegen als mehrköpfige Kanoniergruppe am 8. Mai 1945 im Westen des Weichseldeltas, der Danziger Bucht, einen Marinefährprahm, ein eigentlich hochseeuntaugliches Schiffchen. Wir folgten dem Befehl, wertvolles Artilleriematerial zum Marinestützpunkt nach Hela zu transportieren.“ Dieses hätte vor den Russen in Sicherheit gebracht werden sollen, so der Hochstättener. Solche und andere Boote hätten einen Pendelverkehr zur Festung Hela aufgenommen.
Zur selben Zeit ereignen sich schwerste Gefechte in der Region. „Angriffe, zum Beispiel durch die gefährlichen feindlichen‚Iljuschin II-2’, versetzen uns in Schrecken. Schutz dagegen gab es nicht mehr“, sagt der 98-Jährige. Deutsche Formationen zur Luftabwehr seien zerschlagen gewesen, die russische Armee sei unaufhaltsam vorgerückt – kein Tag, keine Nacht ohne Beschuss und Explosionen.
„Die schöne Heimatstadt war kaum wiederzuerkennen, sie lag großenteils in Trümmern.“
Zeitzeuge Helmut Bechtoldt erinnert sich an seine Rückkehr nach Bad Kreuznach nach dem Krieg
„Auf dem Boot wurde gegen Abend des 8. Mai bekannt, dass ab Mitternacht Waffenruhe eintreten werde. Der Krieg sei also in wenigen Stunden vorbei“, erinnert sich Bechtoldt. Die Fahrtroute sei daraufhin spontan geändert worden – nicht Hela, sondern die offene Ostsee, Richtung Nord-Nord-West, Bornholm, Schweden und dänische Inseln wurden das Ziel. „Zum Transport mitgebrachte Gegenstände mussten nun ebenso vernichtet werden wie sämtliche Waffen, schriftliche Unterlagen und Dienstabzeichen: Alles ging über Bord.“
Bechtoldt kehrt in seine Heimat zurück
Die improvisierte Ostseefahrt verläuft ohne Zwischenfälle und endet auf der Kieler Förde. „Im dortigen Hafen warteten britische Truppen auf uns. Wir waren nun ‚prisoners of war’, Kriegsgefangene, die in bewachten Fünfergruppen anlanden durften“, so Bechtoldt. Alle gefangenen Kameraden seien später auf einem beschwerlichen Fußmarsch nach Neustadt in Holstein verlegt worden – britische Wachsoldaten um die Soldaten herum, Panzerfahrzeuge an der Spitze und am Schluss.
Später erfolgte der Weitertransport per Bahn in Richtung Süddeutschland. In Gau-Algesheim konnte Bechtoldt während eines Haltes den Waggon des Güterzugs verlassen. „Ich bewegte mich wie ein Fremder zu Fuß durch Ruinendörfer und erreichte endlich Bad Kreuznach. Die schöne Heimatstadt war kaum wiederzuerkennen, sie lag großenteils in Trümmern.“ Auch das Elternhaus stand nicht mehr – überall Schutt. Die Eltern hätten jedoch überlebt und bei Nachbarn in Notunterkünften eine Bleibe gefunden. „Nach dem Krieg standen wir alle vor dem Nichts“, sagt er.
„Hoffentlich müssen Nachfolgegenerationen derartige Ereignisse nie erleben.“
Helmut Bechtoldt, Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs
Für den Hochstättener folgten die schulische Nach- beziehungsweise Weiterarbeit, das Studium und eine jahrzehntelange berufliche Tätigkeit in seiner Heimatstadt. Der Start ins Leben eines Heranwachsenden sei jedoch ausgesprochen erschwert worden, begleitet von Widrigkeiten, die großes Organisationstalent und Improvisation erforderlich gemacht hätten, erinnert sich der 98-Jährige.
„Mich erfüllt beim Rückblick neben großer Beklommenheit ein gewisses Glücksgefühl und große Dankbarkeit, dass ich – damals ein junger Mann unter zwanzig Jahren – überhaupt aus den traumatisierenden Schrecken des Krieges zu meiner Familie unversehrt hatte zurückkehren können.“ Heute lebt Bechtoldt in seiner Familie mit Kindern, Enkeln und Urenkeln. „Ich bin froh, dass uns in Deutschland bislang, nach 1945, solche furchtbaren Kriegszeiten erspart geblieben sind. Hoffentlich müssen Nachfolgegenerationen derartige Ereignisse nie erleben.“
Helmut Bechtoldt erinnert sich an die Ereignisse vor 80 Jahren gemeinsam mit seinem Sohn Hans-Joachim Bechtoldt, Professor der Theologie, zurück, der seine Mitschriften unserer Redaktion überlieferte.