Ob Café Wonsyld, Café Kiefer oder Café Wahl – sie alle brauchten jene süßen Leckereien, die einst eine Kreuznacher Firma lieferte: Milch Fessner. Die hatte ihren Hauptsitz unter der Nikolauskirche am Eiermarkt, in der Magister-Faust-Gasse 11, außerdem eine Geschäftsstelle am Kornmarkt. Heute erinnert nur ein hölzernes Schild mit der Aufschrift „Milchgässchen“ in der Poststraße an das Geschäft von damals. Nun kommt ein Batzen Erinnerungskultur hinzu: Helga Fessner-Heleine, die hier großgeworden ist und heute in Hessen lebt, hat im Alter von 84 Jahren ihre Biografie in Buchform herausgebracht: „Vom Milchmädchen zur erfolgreichen Managerin“.

Die kleine Helga, geboren 1940, hüpfte als Töchterchen der Milch-Fessners für ihr Leben gerne am Ellerbach umher, mit anderen Kindern des Viertels war sie „Ellerbach-Matrose“, so nannten sie sich. Die Erinnerungen geben einen interessanten Einblick in die Welt einer Kleinstadt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg war. Und in sehr persönliche Erfahrungen.
Der eklige Ellerbach
Man nehme nur die Schilderung der Herumtollerei am Ellerbach. Kreuznacher kennen ja den traditionellen „Ellerbachsprung“: Wer es schafft, in „Klein-Venedig“ über das Wasser zu springen, der ist „echtes Gässje“. Ihre Eltern sahen es nicht gerne, dass sie am Ellerbach spielte. Denn dort war es nicht romantisch wie heute. Es war eklig, schmutzig. Alle Bewohner warfen ihre Abfälle übers Balkongeländer. Die damalige Erziehung war auch kantig. Für die kleine Helga gab es Backpfeifen, weil sie die Tochter einer Kundin im schönsten Kleidchen zum Sprung über den Ellerbach animiert hatte – der haute nicht hin, das rosa Kleid war verdreckt.

Vater und Mutter Fessner arbeiteten hart, obwohl das Milchgeschäft für beide kein Lebensziel war. Vater Ernst Wilhelm hatte geträumt, Operettensänger zu werden. Doch er musste er das Geschäft übernehmen. Mutter Irmgard hatte als „Hausdame“ bei der jüdischen Verlegerfamilie Pit Fries gearbeitet, die nach den Pogromen 1938 nach Amerika auswanderte. Irmgard Fessner wurde dann Leiterin eines Kinderheims in Kreuznach. Dort lieferte Ernst Wilhelm Fessner Milchprodukte hin, so fand man sich.
Singen im Eissalon
Ihr Vater habe darunter gelitten, seinen Traum als Sänger nicht leben zu können. Im Eissalon wurde er oft aufgefordert zu singen, dazu gab es Wein. Kam er beschwipst nach Hause, gab es Krach mit der Mutter: „Wir Kinder mussten das öfter erleben, als uns lieb war, und es blieb uns immer in Erinnerung.“

Was Helga Fessner begeisterte, das war die Reiterei. Die Milchprodukte wurden ja lange mit einem Pferdefuhrwerk ausgefahren, und so konnte das Mädchen auf dem Kutschpferd Rosa auch reiten gehen. Hierfür entbrannte bei ihr mit 14 Jahren eine Leidenschaft, die ihr auch Ohrfeigen einbrachte: Weil sie ihr Lehrgeld in Reitstunden investierte, konnte sie zu Hause nichts abliefern, und patsch (!) gab es vom Vater wieder eine Backpfeife.
Doch ihre Passion brachte sie zu den großen Fuchsjagden im Soonwald. Dort hatten die wohlhabenden Jäger noble Pferde, sie ritt auf dem Kutschpferd – und hielt mit. Ihre erste Jagd wurde von Richard Krämer organisiert, dem Inhaber des Kreuznacher Kaufhauses, aus dem der Kaufhof wurde. Er war Vorsitzender des Reitvereins. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, Georg Heleine aus Hessen. Ihn heiratete sie 1959 in der Kreuznacher Pauluskirche, mit ihm zog sie in die Nähe von Ober-Ramstadt bei Darmstadt. Dort hatte ihr Mann eine Landwirtschaft.
Ein schwerer Verlust
Dass sie mit ihm ziehen konnte, hatte einen bitteren Grund. Ihren 23-jährigen Bruder Horst hatte die 16-jährige Helga im Jahre 1956 verloren. Er war nahe Mainz von einem Lastwagen überfahren und getötet worden. Ihr Bruder sollte den Betrieb übernehmen, und sie wäre bei ihm geblieben, um ihn zu unterstützen, sagt sie heute noch bewegt. Denn er sei nicht nur Bruder, sondern auch Freund und Beschützer gewesen. Sie habe ihn wohl verlieren müssen, um frei für den Fortzug mit ihrem Mann zu werden, sinniert sie heute. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod sah sie ihren geliebten, verstorbenen Bruder im Auto neben sich. Die Liebe zu den Pferden habe ihr das Leben gerettet, sagt sie, denn sie habe nach dem Tod ihres Bruders auch suizidale Gedanken gehabt.

Ihre Erinnerungen hat Helga Fessner-Heleine in den vergangenen zwei Jahren geschrieben, und sie erinnert sich daran, dass ihr Mann bisweilen genervt war: Er saß vor dem Fernseher, sie am Computer. Da habe er schon mal gegrummelt. Doch ihr war es ein Anliegen, Kindern und Enkeln die Erinnerungen zu hinterlassen, wie schwer es früher war. Sie war Mutter, sie arbeitete hart im Agrarbetrieb ihres Mannes mit, bevor sie in diversen Pharmaunternehmen Hessens Karriere machte und dann auch noch den Aufbau einer professionellen, erfolgreichen Pferdezucht samt Stallungen und Reitschule managte. Der „Waldenserhof“ wird heute von ihrem Sohn betrieben. Ihr Mann konnte ihre Erinnerungen nicht mehr lesen, er starb im Juli 2024.
Das Buch „Vom Milchmädchen zur erfolgreichen Managerin“ ist online und im Buchhandel erhältlich.