Erika Ernst, geborene Rauner, musste vor den Nazis fliehen und wäre im April 100 Jahre alt geworden
„Hajesem“ blieb bis zuletzt geliebte Heimat: Erika Ernst floh vor den Nazis und wäre im April 100 Jahre alt geworden
2015 beim Besuch in Israel: Erika Ernst, geborene Rauner (vorn, rechts), neben ihr eine Verwandte. In der hinteren Reihe von links: Rudolf Schwan, Erikas Tochter Dorit Paicov und Werner Schwan.
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Hargesheim/Israel. Nur wenige Wochen vor ihrem 100. Geburtstag am 3. April 2021 ist die gebürtige Hargesheimerin Erika Rauner in der vergangenen Woche in Israel gestorben. Trotz des Terrors, den sie als junges jüdisches Mädchen erleiden musste, blieb für sie bis zuletzt „Hajesem“ die geliebte Heimat ihrer Kindheit.

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Sie wuchs als drittes Kind des Ehepaars Arthur und Augusta Rauner auf, die in der Lindenstraße in Hargesheim ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Wie ihre drei Brüder besuchte Erika die evangelische Schule in der Hunsrückstraße. Vater Arthur war Mitbegründer und mehrfach Vorsitzender des Turnvereins Hargesheim. Die ganze Familie Rauner war in dem 1910 gegründeten Verein aktiv. Obwohl er 1933 noch einmal wiedergewählt wurde, musste Arthur Rauner wegen des zunehmenden Drucks, den das nationalsozialistische Regime auf allen Ebenen ausübte, den Vorsitz im Turnverein schließlich abgeben.

Die Reichspogromnacht war für die drei jüdischen Familien Hargesheims eine Zäsur: Zweimal fegte der Mob – Rollkommandos aus anderen Ortschaften – durch ihre Häuser, ihre Wohnungen wurden verwüstet. Augenzeugen sahen, wie bei Familie Rauner Einrichtungsgegenstände in den Gräfenbach geworfen wurden. Die Schlägertrupps trieben die Bewohner auf die Straße, beleidigten, demütigten und misshandelten sie. Schon bald danach wurden die jüdischen Bürger aus dem Kreisgebiet gezwungen, in Sammelstellen zu leben. Sie mussten ihre Häuser meist weit unter Wert verkaufen.

Die Hargesheimer Familien Kahn, Marx und Rauner wurden in Bad Kreuznach, teils im Kolpinghaus, teils in der Gymnasialstraße, untergebracht, bis sie deportiert wurden. Die vier Geschwister Walter Wilhelm, Hugo, Erika und Wolfgang konnten sich schon vorher durch Flucht retten. Die Eltern brachten sie auf verschiedenen Wegen in Sicherheit.

Erika gelangte mit einer Hilfsorganisation für jüdische Kinder per Schiff ins damalige Palästina. Auch ihre Brüder flohen nach Israel. Die Eltern Arthur und Augusta Rauner aber fanden im Konzentrationslager den Tod, ebenso das Ehepaar Hermann und Pauline Kahn. Adolph Marx und seine Frau Emma galten als verschollen und wurden 1945 für tot erklärt.

Die Geschichte der drei jüdischen Familien hat der Hargesheimer Rudolf Schwan erforscht. Durch seine Recherchen entwickelte sich ein regelmäßiger Kontakt zu den Nachfahren der Familie Marx, die in den USA leben, und denen der Familie Rauner. Zahlreiche Kinder und Enkel von Erika Rauner, verheiratete Ernst, und die ihrer Geschwister haben im Laufe der Zeit die alte Heimat ihrer Eltern und Großeltern besucht. Rudolf Schwan begleitete sie bei ihren Streifzügen durch Hargesheim und zum jüdischen Friedhof in Bad Kreuznach zum Grab Michael Rauners. Der Heimat- und Familienforscher steht telefonisch, per E-Mail und über die sozialen Netzwerke in regelmäßigem Kontakt zur Familie Rauner und erfuhr dabei, wie eng verwoben deren Familienleben mit dem Turnverein war. „Bei uns in Hajesem ...“, damit hätten die Geschwister viele Geschichten begonnen, die sie ihren Kindern und Enkeln erzählten, berichteten die Nachfahren. 2014 kam eine 15-köpfige Gruppe der Familie aus Israel zur Einweihung der Arthur-Rauner-Straße nach Hargesheim. Rudolf Schwan und sein Bruder, der frühere Ortsbürgermeister Werner Schwan, waren 2015 mit ihren Frauen zum Gegenbesuch eingeladen.

„Wir sind mit großer Herzlichkeit und Liebe empfangen worden, eine Cousine hatte ihr Haus komplett für uns geräumt, und sie sind mit uns im ganzen Land herumgefahren“, erinnert sich Rudolf Schwan an die für ihn unvergessliche Begegnung. Ihren deutschen Ausweis hatten alle Rauner-Kinder ebenso wie die Erinnerung an ihre Kindheit in „Hajesem“ stets behalten. Christine Jäckel

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