Es ist früh am Morgen. Die achtjährige Wilma Vier und die siebenjährige Edith Vier sitzen im Keller eines großen Backsteinhauses mit dicken Mauern. Über ihren Köpfen rumpelt es – das sichere Zeichen dafür, dass die amerikanischen Panzertruppen den Hunsrückort Holzbach erreicht haben. Plötzlich öffnet sich die Kellertür: Uniformierte, bewaffnete Soldaten der deutschen Wehrmacht laufen die Treppe hinunter, Schutz suchend vor dem Feind. Es ist der 16. März 1945: Das Leben der beiden Mädchen steht auf dem Spiel.
Dieser Moment hat sich bei den Schwestern Wilma Fahlsing und Edith Kappel (beide geborene Vier) bis heute eingeprägt. „Unser Leben hing am seidenen Faden“, sagt Kappel. „Wir wären 1945 noch drauf gegangen, kurz vor dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai“, ergänzt Fahlsing, die ältere der Schwestern. Die beiden Frauen sitzen gemeinsam am heimischen Küchentisch. Kappel, aus ihrem Wohnort Bad Kreuznach angereist, besucht ihre Schwester in Hahnenbach: Gemeinsam denken sie zurück an ihre Kindheit im Krieg.
Schwestern scheitern auf der Suche nach Schutz
Bereits am Abend des 15. März 1945 habe sich in Holzbach eine Nachricht herumgesprochen. „Es hieß, dass die amerikanischen Truppen Simmern erreicht hätten und dass dort viele Zivilisten ums Leben gekommen seien“, sagt Kappel. Ab da war die Ankunft der US-Soldaten im wenige Kilometer entfernten Holzbach nur noch eine Frage der Zeit.
„Am Morgen des 16. März liefen wir vier Kinder mit unserer Mutter in aller Früh los, um in einem Bunker unter dem Holzbacher Bahndamm Schutz zu finden“, erklärt Kappel. Durch diesen Bunker habe ein kleiner Bachlauf geführt. „Der war mit Holzbrettern zugelegt, damit man im Trockenen stehen konnte.“ Schnell habe die Familie festgestellt: Der Bunker ist voll.
„Unser Leben hing am seidenen Faden.“
Edith Kappel, Zeitzeugin des Zweiten Weltkriegs
„Wir hätten ganz vorne am Eingang stehen müssen. Wenn die Amerikaner geschossen hätten, wären wir zuerst draufgegangen“, so Fahlsing. Also seien sie zurück in Richtung ihres Elternhauses gelaufen. Unterschlupf hätten sie im Keller der Nachbarn gefunden – gemeinsam mit der Nachbarsfamilie, deren beiden Kindern und einer aus dem Saarland geflüchteten dreiköpfigen Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Kind.
Von einem Viehwagen aus hätten vier oder fünf deutsche Soldaten – so genau erinnern sich die Schwestern nicht mehr – am Morgen des 16. März 1945 das Voranschreiten der amerikanischen Truppen ausgespäht. „Die Amerikaner müssen das gesehen haben“, sagt Kappel. Die US-Soldaten seien zum Keller gekommen, wo Fahlsing und Kappel sich mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern und den anderen Familien aufhielten und wo die deutschen Soldaten sich versteckten.
Stille und Angst vor dem Tod erfüllen den Keller
Die Kellertür öffnet sich. „Kommt raus“, rufen die US-Soldaten auf Englisch. Gemeint sind die deutschen Soldaten. Unten im Keller: Totenstille. Der aus Orscholz im Saarland geflüchtete Mann erbarmt sich, schleppt sich mit seinem Holzbein die Treppe hinauf – in der Hand ein weißes Taschentuch als Zeichen des Friedens und der Kapitulation. Die US-Soldaten hingegen halten bereits Granaten in den Händen, bereit, diese in den Keller des Backsteinhauses zu werfen. Drei Familien, darunter acht Kinder, erleben Todesangst.

Das Szenario des 16. März vor 80 Jahren ist den Schwestern genau in Erinnerung geblieben. „Die Erwachsenen fingen an, mit den deutschen Soldaten zu schimpfen: ‚Wenn ihr nicht hochgeht, sterben wir alle’, haben sie gesagt“, erinnert sich Fahlsing. Zunächst hätten sich die deutschen Soldaten geweigert. „Vor allem unsere Mutter war sehr energisch. ‚Schämt ihr euch nicht?’, hat sie in ihrer Angst um uns Kinder gerufen.“
Die deutschen Soldaten seien selbst noch sehr jung, fast Kinder, gewesen und hätten fürchterlich geweint, so Kappel. Irgendwann hätten sie Einsicht gezeigt. „Die Soldaten nahmen ihre Gewehre und warfen sie uns vor die Füße,“ erzählen die Schwestern. Dann seien die jungen Männer die Kellertreppe hinauf gegangen, um sich den US-Soldaten zu stellen – die Erwachsenen und Kinder im Keller blieben vor einem größeren Unglück bewahrt.