Wo auf dem Wahlplakat der Linken Jürgen Locher drauf steht, ist auch Jürgen Locher drin. Wofür aber steht der heute 64-Jährige, der im September nach 45 Jahren Arbeit in Rente geht. Lange nachdenken muss er darüber nicht: Soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Frieden. Das sind seine Themen. Er will eine andere Wirtschaftspolitik – eine, die sich traut, sich mit den Konzernen anzulegen. „Das ist aus meiner Sicht das Entscheidende. Bislang hat sie nur die großen Konzerne bedient, die kleinen und mittelständischen Betriebe wurden kaputtgemacht.“ Eine gute Wirtschaftspolitik dagegen brauche mehr Gemeinwohl, sorge dafür, dass der Reichtum gerechter verteilt wird, lautet sein Credo. „Es gibt viele Bereiche, die der Markt nicht regeln kann.“ Als Beispiel führt er gemeinnützigen Wohnungsbau an. Daran fehlt’s. Das heißt: zu wenig Wohnungen und zu teuer. Und dass es heute einen Mindestlohn gibt, sei auch mit der Linken zu verdanken.
Armut selbst erfahren
Anderes Stichwort: Klimakrise, E-Mobilität. „Wir müssen zu einer anderen Form des Wirtschaftens kommen“, fordert er. „Wir verbrauchen zu viele Ressourcen.“ Jetzt gehe es darum, dies auf eine sozial gerechte Weise zu machen. Nur so könne man die Menschen mitnehmen. Sie dürfen nicht das Gefühl haben, dabei über den Tisch gezogen zu werden.
Locher fordert auch eine Grundsicherung, die zum Leben reicht. Er redet nicht nur darüber, er weiß, wovon er spricht: Als Kind hat er bittere Armut erlebt – aufgewachsen auf einem kleinen Bauernhof in Hettenrodt bei Idar-Oberstein mit zwölf Geschwistern. In Urlaub fahren konnte er nur, wenn ihn Nachbarn mitnahmen. Sein Vater war Kleinbauer und Tagelöhner, später Zivilbeschäftigter bei der Bundeswehr. „Ich weiß, wie es ist, mit wenig Geld zu leben, wie Armut aussieht. Das habe ich sehr konkret erfahren.“ Er ging in die Dorfschule, hat eine Schreinerlehre gemacht, absolvierte seinen Zivildienst: „Nach dem wenigen, was mir mein Vater, der im Zweiten Weltkrieg Soldat an der Ostfront war, erzählt hat, war für mich klar: Ich wollte kein Soldat sein.“ Er holte seine Mittlere Reife nach, schulte 1987 zum Werkzeugmacher um und zog nach Bad Kreuznach – auch weil seine heutige Frau Birgit Osterland von hier stammt und in Mainz studierte. Er arbeitet zunächst bei Vaillant, später, inzwischen seit 34 Jahren bei Musashi, früher Hay.
„Meinen engen Dorfblick hat sie mir gründlich geweitet.“
Jürgen Lochers Kompliment an seine Frau
Kennengelernt haben sich beide 1985 auf dem Krahloch-Festival bei Sensweiler – ein verspäteter, kleiner Hauch von Woodstock. Ein Sammler ist er zwar nicht, aber die Dreier-LP von Woodstock waren seine ersten Schallplatten. Er hört gerne Blues, sie eher Nick Cave. 2004 heirateten die beiden. Von seiner Frau habe er „sehr viel gelernt“. Er kam aus einem Zuhause, wo es wenig Bildung gab, sie hatte Abitur. „Meinen engen Dorfblick hat sie mir gründlich geweitet.“
2003 hat das Paar das Haus in der Sigismundstraße gekauft, das im Krieg zerstört und in den 50er-Jahren neu aufgebaut wurde, und habt es von Grund auf saniert. Es vermittelt gleich eine Wohlfühlatmosphäre. Kein überflüssiger Schnickschnack, kein modischer Firlefanz, keine extravagante Möblierung. Ins Auge fallen die vielen Bilder. Auf einem ist der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt zu sehen. Gegenüber hängt eine kunstvolle Seidenmalerei mit einem Hahnmotiv von Heidi Baumgartner, dazu ein Stillleben von Elena Dotzauer. Andere Bilder sind von dem verstorbenen Kreuznacher Maler Pirmin Sutter. In der kleinen, gemütlichen Leseecke hängt das Kunstwerk Synagoga, das René Blättermann, der Sohn von Nicolaus Blättermann, angefertigt hat. Im Bücherregal stehen Werke von Oscar Wilde, Victor Hugos „Die Elenden“ und Tschingis Aitmatows „Der Schneeleopard“.

Locher war schon früh in der Friedensbewegung aktiv, hat die Demos gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Hasselbach organisiert, war bei den Ostermärschen dabei. Über die Friedensbewegung kam er auch zur Politik. Als ihm Mitte der 80er-Jahre die DKP ein Politikstudium in der DDR anbot, griff er aus Überzeugung zu. Es war ein spannender historischer Moment – die Zeit von Michail Gorbatschows Glasnost und Perestroika. Locher sah es als Chance, hat dort politische Theorie gelernt. Es war eine spannende, „tolle Zeit“ in Berlin. „Ich habe die Gelegenheit aber nicht genutzt, um in der DDR einen Job zu machen, sondern um dort zu lernen.“ Nach einem Jahr kehrte er wieder zurück.
1994 wurde in Bad Kreuznach ein Kreisverband der PDS, der Vorgängerpartei der Linken, gegründet. Locher wollte zwar „nicht die erste Geige dabei spielen“, trat aber als Direktkandidat für den Bundestag an, und 2002 wieder – diesmal als Spitzenkandidat der Landesliste. „Damals hatte ich eine reale Chance, in den Bundestag zu kommen.“ Berufspolitiker zu werden, das hätte er sich mit 40 Jahren vorstellen können, heute verschwendet er darauf keinen Gedanken mehr. Er ist niemand, der vergebenen Chancen nachtrauert.
„Bei allem Ärger macht’s auch Spaß. Es gibt auch gute Momente.“
Jürgen Locher über seine Arbeit im Kreuznacher Stadtrat
Natürlich hat seine Biografie auch seine politischen Einstellungen geprägt. Er hat sein Leben lang gearbeitet, engagiert sich in der Gewerkschaft, in der IG Metall und dem DGB, und ist seit mehr als 20 Jahren Betriebsrat. „Mir war sehr früh klar: Wenn du dich nicht um deine Interessen kümmerst, andere tun es nicht.“ Jetzt tritt er erneut für die Partei an – natürlich nicht, um nach Berlin zu kommen. „Mein Ziel ist es, der Linken zu helfen, über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen, damit die Partei wieder im Bundestag vertreten ist.“ Durch seine Jahrzehnte lange politische Arbeit ist er hier ein bekanntes Gesicht. Seit 2009 gehört er dem Stadtrat an und muss sagen: „Bei allem Ärger macht’s auch Spaß. Es gibt auch gute Momente.“
Ein Linker aus Überzeugung
Ein Linker ist er aus Überzeugung. „Politisch links heißt für mich, dass ich die Welt aus der Perspektive der einfachen Leute sehe und die Probleme aus dieser Perspektive betrachte, um zu sehen: Wie finde ich eine Lösung, die gerecht ist, demokratisch und eine, die Kriege verhindert. Das sind ganz wichtige Dinge für mich. Und ich habe immer einen emanzipatorischen Ansatz. Ich will, dass die Leute selbst aktiv werden und gestalten“, erklärt er. Auch die Frage von Krieg und Frieden müsse man immer aus Sicht der davon betroffenen Menschen betrachten. „Das ist für mich linke Politik.“